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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf
Autoren: S.P. Somtow
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ein Sioux .«
    Ich bekam die Wagentür auf. Ich konnte ihm nicht in die
Augen sehen, konnte mit dieser ungezügelten Emotion nicht umgehen. Hitze schlug mir ins Gesicht. »Können wir ein andermal darüber sprechen?«, bat ich. »Es wird dunkel. Wir sollten aufbrechen.«
    »Selbstverständlich, Miss Dupré«, antwortete er. »Aber verrate mir erst, warum ausgerechnet du den Killer von Laramie interviewen willst?«
    »Ich schreibe ein Buch über ihn«, erklärte ich. »Ein paar Verleger sind daran interessiert. Und … na ja, ich habe mich mit meinem Stammbaum beschäftigt, und … Bei den Verhören wurde sein altes Kindermädchen erwähnt. Sie hieß Hope Martin. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Frau meine Urgroßmutter war.«
    »Du willst also deine Familienbande ausnützen?«
    »Vielleicht kann ich mir ja so Zugang verschaffen.«
    »Glaubst du nicht, du solltest den alten Mann in Ruhe lassen? Die ganze Geschichte ist schließlich schon dreißig, vierzig Jahre her. Er ist ein todkranker, alter Mann. Du wirst ein dickes Buch mit möglichst vielen ekligen, intimen Details über ihn schreiben. Ich wette, du hast schon einen Titel dafür … ›Ich war der wahnsinnige Sexmörder … aufgezeichnet von Carrie Dupré‹. Ich sehe es schon vor mir. Vielleicht wird es sogar verfilmt. Von Hitchcock.«
    »Hör auf.«
    »Du zitterst«, stellte er fest. »Ich wette, du machst dir vor Angst fast in die Hose.«
    »Es ist nur der Wind. Und der Schnee.« Der Wind hatte nicht nachgelassen. Es war dunkel, so dunkel. Schnee wehte durch die offene Tür in den Wagen. »Können wir fahren?«
    »Mir machst du nichts vor. Du hast Angst.«
    »Nein!«
    »Angst! Aber hier draußen gibt es nichts. Nur die Weite, die Trostlosigkeit. Nichts wird dich anspringen und zerreißen. Nicht heute. Du hast noch drei Tage.«

    »Drei Tage?«
    »Bis zum Vollmond.«
    »Vollmond … das ist lächerlich.«
    Er kicherte wie eine Norne, die gerade einen Lebensfaden abgezupft hat, während er über den schneebedeckten Asphalt zurückging. Das Knattern seines Motorrades wurde vom pfeifenden Wind verschluckt. Ich schlug die Tür zu und lenkte den Wagen wieder auf die Straße. Er hatte recht. Ich zitterte. Aber nur, weil ich ihm so unerwartet wiederbegegnet war. Weil ich ihn verabscheute und doch ohne ihn vollkommen hilflos war. Das war alles. Vollmond, na klar. Ich verstand nicht, warum Preston mir Angst einjagen wollte.
    Ich war hier, um einen Psychopathen zu interviewen, keinen Werwolf.
     
    Beim ersten Mal nahm ich den Ort Winter Eyes kaum wahr. Ich war zu sehr damit beschäftigt, Preston Grumiaux zu folgen, der wie ein dunkler Wirbelwind durch den Schnee jagte. Später würde ich den Ort noch kennenlernen. Anfangs war ich enttäuscht. Wenn man in der Stadt lebt, glaubt man, all diese gottverlassenen Ortschaften würden eine Art romantischer Magie ausstrahlen. Die Realität in Winter Eyes war anders. Später würde ich eine andere Art von Magie hier finden, feindselig und von verführerischer Schönheit. Es würde mich immer wieder erstaunen, dass ich nichts von all dem gemerkt hatte, als ich das erste Mal durch Winter Eyes gefahren war. Natürlich sah ich damals nur den langweiligen, modernen Ort, nicht die Geisterstadt, die sich dahinter verbarg.
    Es schien bergauf zu gehen. Die Stadt hatten wir bereits hinter uns gelassen. Die schmale Straße schlängelte sich durch Schneefelder. Preston fuhr nicht langsamer.
    Bei einer Kreuzung bogen wir ab. Schnee fiel jetzt in dicken Flocken. Ich sah bloß noch den dunklen Schatten, der Preston Bluefeather Grumiaux darstellte. Inzwischen erinnerte ich mich
daran, dass ich mit ihm geschlafen hatte. Er hatte recht. Ich hatte es getan, um zu demonstrieren, dass ich viel liberaler war als die anderen. Ich schämte mich dafür. Durch den Schneeschleier konnte ich die Umrisse eines Felsens ausmachen. Vielleicht war es auch ein Berg. In diesem grauen Schleier war das nicht auszumachen. Das Tageslicht war fast erloschen.
    Plötzlich bogen wir wieder ab. Ich erinnere mich an Stacheldrahtzäune im Schneegestöber. Wir hielten an. Aus dem Schnee stieg eine Betontreppe auf, die Preston bereits hinaufeilte. Er nahm zwei Stufen auf einmal; sein Haar und seine Lederjacke flatterten im Wind. Ich stieg aus und folgte ihm. Die Kälte war kaum auszuhalten, und durch den dichten Schnee konnte ich kaum etwas erkennen. Die Türen waren aus Eichenholz. Preston benutzte einen metallenen Türklopfer. Langsam stieg ich die Treppe hoch, trat
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