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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf
Autoren: S.P. Somtow
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abrissen, sprang und hüpfte, als wäre er wieder jung.
    Und ich berührte seinen Traum und stand neben ihm, als er
zu dem Schatten sagte: »Dein Name ist mein Name. Wir sind eins.«
    Und Johnny Kindred und die anderen Personen in ihm wurden eins.
    Ich liebte ihn.
    Und weil ich ihn liebte, tötete ich ihn, und am nächsten Tag reiste ich ab nach Kalifornien.
2
1988: Weeping Wolf Rock
    Vollmond
     
    Inzwischen bin ich eine Frau in mittleren Jahren. Dies ist nicht das Buch, das ich schreiben wollte. Aber nachdem ich es geschrieben habe, ist mir klar, dass es das einzige Buch ist, das ich schreiben konnte.
    Noch ein J. K. starb an jenem Novembertag. Jeder Amerikaner weiß, was er an jenem Tag gemacht hat. Ich weiß nur noch, dass ich ständig an Johnny dachte und mich fragte, ob es wohl eine Verbindung gab. Manchmal frage ich mich immer noch, ob der Tod eines Verrückten in South Dakota etwas mit dem Tod eines Präsidenten zu tun haben könnte. Es scheint idiotisch, aber ich kann mich nicht dagegen wehren.
    Heute fahre ich einen Volvo. Ich unterrichte Anthropologie an einem namenlosen College im Mittelwesten. Ich habe noch mehr Bücher geschrieben, aber sie sind Lügen, Schatten.
    Seit einiger Zeit fühle ich eine seltsam vertraute Unruhe. Ich glaube, die Zeit für einen neuen Mondtanz ist gekommen. Deshalb bin ich zum Weeping Wolf Rock zurückgekehrt. Diesmal bin ich allein. Kein Helikopter wird mich auf das Plateau bringen. Vielleicht wird sich der Fels vor mir neigen, wie er es einst für jenen Jungen tat, der eine neue Gestalt für die Welt
erträumte. Ich habe in der letzten Zeit eine Menge geträumt. Nur im Traum können wir das absolut Böse erfahren, bekämpfen, vielleicht sogar besiegen.
    Waren die Shungmanitu tatsächlich die selbstlosen, totemistischen Geschöpfe - und die Menschen aus Winter Eyes das alles verzehrende Böse -, wie die Vision glauben machte? Ich weiß, dass die Wahrheit meist grau ist wie die Wolken, die den Mond verdecken.
    Was wollte Johnny Kindred mit seinem Mondtanz erreichen? Während seiner Schilderung hörte ich oft Widersprüchliches über das Ziel seiner großartigen Vision. Wollte er tatsächlich alle weißen Werwölfe zurück ins Meer schleudern und den Shungmanitu-Indianern die Prärie zurückerobern? War der Tanz so etwas Ähnliches wie der Geistertanz ein paar Jahre später, der das Land von den Weißen befreien und die Büffel zurückbringen sollte und der schließlich im Massaker von Wounded Knee endete? Was wollte Johnny heilen? Nur sich selbst oder das ganze Universum - und war das nicht eine größenwahnsinnige Selbsttäuschung?
    Ich fahre von der Straße ab, kurve durch Gras, das bis zu den Wagenfenstern reicht. Ich kann den Wind hören, obwohl die Fenster fast geschlossen sind und aus dem Auto-CD-Player die Ouvertüre einer Oper dröhnt. Der Mond ist noch nicht zu sehen, aber die riesige, blutrote Sonne geht schon hinter den Hügeln in der Ferne unter, und dunkle Wolken rollen über den Himmel.
    Gott sei Dank ist es nicht Winter - diesmal fällt der Mondtanz in den Hochsommer.
    Hat Johnnys Tanz etwas gebracht? Hat sein Opfer bewirkt, was seine Vision prophezeite? Hat sich die Welt verändert?
    Kennedy starb. Wir verloren den Vietnamkrieg. Heißt das, dass die Weißen zurück ins Meer getrieben wurden?
    Aber das passt nur halb zu der Prophezeiung.
    Warum habe ich Johnny getötet?

    War ich so gefangen in seiner Fantasie, dass ich jeden Realitätssinn verlor? Ich habe mich oft gefragt, warum Dr. La Loge mich nicht verhaften ließ; andererseits hätte er ja gar keine Leiche vorweisen können … jedenfalls keine menschliche.
    Im Film verwandelt sich der Werwolf immer in seine menschliche Gestalt zurück, wenn die Kugel ihn erwischt. Aus Erfahrung weiß ich, dass manchmal die eine, manchmal die andere Form bleibt, manchmal auch nur eine schimärische Zwischengestalt.
    Warum habe ich Johnny getötet?
    Weil ich ihn liebte - das ist immer die Antwort.
    Aber auch, weil ich Teil seines Tanzes war, und weil der Tanz sonst nicht vollständig gewesen wäre, und weil der Rhythmus des Tanzes mich packte - weil ich die Musik hörte.
    Irgendwie überrascht es mich nicht, einen schäbigen Dodge-Lieferwagen am Fuß von Weeping Wolf Rock stehen zu sehen. Ich bin Preston nicht mehr begegnet, seit er vor fünfundzwanzig Jahren meine Koffer in den Impala packte. Wahrscheinlich hat er es auch gespürt. Ich werde den Mondtanz nicht allein tanzen. Vielleicht wird einer den anderen töten müssen.
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