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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf
Autoren: S.P. Somtow
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Seine Hand war kalt wie der Schnee draußen.
    »Preston, Sie sollten sie ebenfalls begleiten«, sagte La Loge.
    Er kam zu mir. Ich stand zwischen beiden wie zwischen Scylla und Charybdis. Die beiden funkelten einander an. Zwischen ihnen bestand offenbar eine alte Feindschaft. Ich kam mir vor wie ein Eindringling.
    »Komm, Carrie«, sagte Preston. Er berührte kurz meine Schulter. Seine Hand war so warm, wie die von James eisig gewesen war. Sie kitzelte auf meiner Haut. Ich erinnerte mich inzwischen besser an unsere Liebesnacht, als mir lieb war. Er war wütend gewesen. Ich war nur mit ihm gegangen, um Wilbur
Hart eins auszuwischen. Ich erinnerte mich an das Drive-in-Restaurant. Und wie er zustieß und zustieß, wie eine Maschine. »Hündin«, hatte er mich genannt, »miese, weiße Hündin.« Es hatte mich irgendwie angemacht, aber hinterher fühlte ich mich missbraucht; außerdem tat mir alles weh.
    Ich befreite mich von beiden Händen. »Ich kann selbst gehen«, sagte ich. »Ich bin schließlich nicht vollkommen hilflos.«
    »Ich vergaß«, entschuldigte sich Preston ironisch. »Du bist ja eine selbstbewusste Frau.«
    »Ich gehe voran, Madam«, erbot sich James. »Wenn Mr Grumiaux die Nachhut übernehmen würde?«
    Sterling La Loge kicherte in seinen Kaffee, als wir abmarschierten. Noch einmal werden sie mich nicht zum Narren halten, schwor ich mir, als wir auf den Korridor traten und ich versuchte, mich den Schritten des Killers von Laramie anzupassen, die mit der Gleichmäßigkeit eines Uhrwerks auf dem Boden auftrafen.
     
    Wir fuhren mit dem Lift in den vierten Stock. Wir durchquerten Gang um Gang. Wir gelangten in einen anderen Flügel des Instituts, wo der Boden mit tiefen Teppichen bedeckt war und die Wände mit fein geschnitztem Holz verkleidet waren. Obwohl keine wahnsinnigen Schreie und kein Kettenrasseln zu hören waren, schien mir hier die Luft schwerer zu sein. Vielleicht war es der Duft des öligen, polierten Holzes. Wenigstens begann ich jetzt die eigenartige Atmosphäre zu spüren, die ich von Anfang an erwartet hatte. Dieser Teil des Instituts stammte offensichtlich noch aus der Viktorianischen Epoche. Wir sprachen nicht, aber mehr als einmal bemerkte ich, wie Preston und James einander seltsam anblickten.
    »Ich finde nie im Leben wieder zurück«, gestand ich. Ich versuchte, heiter zu klingen, aber meine Besorgnis war echt.
    »Keine Angst«, antwortete Preston. »Wenn du Hilfe brauchst, in deinem Zimmer ist eine Gegensprechanlage …«

    Wir bogen um eine Ecke. James öffnete eine Tür, ich trat ein.
    »… und außerdem bin ich in der Nähe. Diese Woche noch. Nächste Woche mache ich wieder meinen anderen Job im Reservat.«
    Ein gemütliches Zimmer - sich abschälende Tapeten mit Primel- und Nelkenmuster - Aussicht auf den Schnee. Mein Gepäck wartete schon auf mich. Ich konnte es kaum erwarten, auszupacken und mich einzurichten.
    Auf dem Nachttisch stand ein Spiegel. Als ich einen Blick hineinwarf, sah ich, dass der alte Mann mich musterte. Ich konnte nicht recht glauben, dass er der Killer von Laramie sein sollte. Sein Gesicht schien nur aus Falten zu bestehen. Seine Augen waren leblos.
    Aber während ich sein Gesicht beobachtete, schien es sich zu verändern -
    Ich wollte losschreien, aber kein Laut kam aus meiner Kehle. Ich schaute nur zu. Die Falten auf seiner Stirn glätteten sich. Seine Wangen wurden straffer. Er schien zu weinen. Ich drehte mich um. Seine Miene gefror bereits wieder zu einer Maske des Alters. Aber in den Sekunden, bevor die Butler-Persona wieder übernahm, hörte ich die Stimme eines kleinen Kindes. Sie konnte unmöglich aus diesem alten Mann gekommen sein, und doch war es so. Es war eine Stimme voller Unschuld und Verlangen, und sie flüsterte: »Speranza.«
    Ich wollte schon antworten, fast hätte er mich mit Namen angesprochen. Ich hielt mich zurück. Das Kind war bereits wieder verschwunden; James Karney stand steif und hochnäsig vor mir.
    »Das passiert ständig«, erklärte Preston bedauernd. »Sieht aus wie Zauberei, aber es ist nur tantastische Kontrolle über die Gesichtsmuskeln. Er ist all diese Menschen. Du solltest es in Zeitlupe sehen. Wahrscheinlich wirst du das auch. Die Filme sind im Archiv. Wie Zauberei.«

    James Karney funkelte ihn an.
    »Du kannst nicht so über ihn sprechen!«, wies ich ihn zurecht. »Du tust so, als wäre er gar nicht da. Er ist ein Mensch, auch wenn …«
    »Er ist ein verdammter Mörder. Leute wie er sollten eingesperrt oder am
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