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Wolfsruf

Titel: Wolfsruf
Autoren: S.P. Somtow
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einfältiger Charakter, wie Sie feststellen werden, verglichen mit einigen anderen; er ist so etwas wie ein ewiger Patient, der typische Insasse eines Pflegeheims. Außerdem ein Hypochonder.«
    »Hab den ganzen Morgen auf Sie gewartet, Doc«, jammerte der Alte. »Ich hab doch diese Schmerzen.« Sein Akzent hatte sich ebenfalls verändert, klang nun nicht mehr britisch. »Wo is’ sie?«
    Dr. La Loge hob die Hand. Ich blieb stehen. »Sie ist unterwegs.«
    »Bringen Sie sie weg, ich hab sie nich’ hergerufen, ich will mit keinem sprechen.« Die müde Stimme eines gebrechlichen, alten Mannes.
    »Wollten Sie nicht, dass sie kommt?«
    »Johnny Kindred wollte das. Er glaubt, sie sieht aus wie jemand, den er kennt. Er irrt sich. Ich kenn’ sie jedenfalls nich’.«
    »Wo ist Johnny?«
    »Ich hab ihn umgebracht.«
    »Sie wissen, dass er da ist.«
    »Er kommt nich’ raus. Hab alle anderen eingesperrt, Doc, keiner kommt raus, bis sie fort is’. Is’ zu gefährlich. Ich hab niemandem nix getan, ich will bloß meine Ruhe.«
    »Lupus!«, sagte der Doktor.
    Sofort veränderte sich die Miene des alten Mannes. Dr. La Loge winkte mich herein. Aus dem Gesicht des Patienten war
jede Gefühlsregung verschwunden. Er schien weder alt noch jung. Er saß jetzt kerzengerade auf seinem Bett.
    »Was haben Sie gemacht?«, flüsterte ich.
    »Setzen Sie sich.« Ich tat es und schaltete mein Tonbandgerät ein. »Das war eine posthypnotische Suggestion, Carrie. Sobald ich dieses Wort sage, fällt er in Trance. Ich möchte nicht, dass Sie glauben, diese Hypnose ist etwas Übernatürliches. Das ist kein Zaubertrick. Wir machen das jeden Tag. Auf diese Weise können wir mit ihm sprechen. Mit all seinen Persönlichkeiten.«
    Ich wartete und spielte nervös an den Armaturen meines Tonbandgerätes herum. Noch einmal versuchte ich, die vier Fotos an der Wand zu erkennen; sie waren das einzig Interessante im Raum, und ich würde sie in meinem Buch beschreiben müssen, um etwas Atmosphäre zu schaffen.
    Dr. La Loge sagte: »Jetzt werden wir Johnny Kindred begegnen.« Er setzte sich dem alten Mann gegenüber und fragte leise, lockend: »Johnny Kindred, bist du da?«
    Das Gesicht verwandelte sich - obwohl sich die Züge nicht änderten, agierte der Alte mit der Lebhaftigkeit eines kleinen Jungen. Er sprach mit einem ganz leichten Akzent; englisch oder osteuropäisch vielleicht. Er schaute mir direkt ins Gesicht. Er stand auf. Er kam auf mich zu. Er weinte. »Speranza«, sagte er. »Speranza, ich habe gewusst, dass du kommst, wenn ich lang genug warte …«
    »Sie ist nicht Speranza«, widersprach Dr. La Loge kalt. »Johnny, setz dich wieder hin. Oder es setzt eine Tracht Prügel.«
    »Ja, Doktor. Es tut mir leid, Doktor.« Er schaute uns mit traurigen, tränenvollen Augen an. Wer war Speranza, fragte ich mich.
    »O Speranza, warum hast du mich so lang allein gelassen? Speranza, ich spüre, dass ich in lauter kleine Stücke breche, ich glaube, ich habe etwas Böses angestellt. Speranza, beschütze
mich vor dem Grafen. Bitte mach, dass mich die Indianer nicht skalpieren!«
    »Wovon spricht er?«, flüsterte ich La Loge zu.
    Er kritzelte in seinem Notizbuch. »Das ist für mich ebenso neu wie für Sie«, flüsterte er zurück. »Wir müssen einfach abwarten.«
    »Ich bin nicht Speranza«, erklärte ich ihm. Es war furchtbar, ich fühlte mich, als müsste ich ihm das Herz brechen. »Ich bin Carrie Dupré.«
    »Bist du sicher?«, fragte Johnny Kindred. »Vielleicht bist du auch zerbrochen. Vielleicht ist es ein Teil von dir, an den du dich nicht mehr erinnerst. Wie meine Teile.«
    Er packte meine Hand mit solcher Verzweiflung, solcher Vertrautheit. Seine war kalt wie der Schnee draußen. Ich zog meine Hand nicht zurück; ich war gebannt, gefesselt von den Kinderaugen in dem alten Männergesicht. Irgendwie gehörte ich in seine Welt. Oder er glaubte das. Ich begann, mich zu fürchten, denn ich spürte, wie seine Verrücktheit an mir zerrte, als wollte sie mich aufsaugen. Fest und abweisend wiederholte ich: »Ich bin Carrie Dupré, ich bin Carrie Dupré.«
    »Schau, Speranza, ich hab dir ein Papierflugzeug gebastelt.« Er warf es mir zu. Es war das Notizblatt, das Jonathan Kippax immer wieder zerknüllt und ausgebreitet hatte. Unter Johnny Kindreds Händen hatte es sich in ein schlankes, elegantes Kunstwerk verwandelt. Es machte einen Looping in der Luft und schien genau in meiner ausgestreckten Hand zu landen. Trotz meiner Furcht fand ich ihn irgendwie
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