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Wolfsinstinkt

Wolfsinstinkt

Titel: Wolfsinstinkt
Autoren: L Seidel
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verursachte. Hastig schlug er sich die Hand vor den Mund, um den Schrei zu ersticken.
    Er rang nach Atem. Noch immer flackerten die Lichter in seiner Erinnerung, als würde es gerade passieren, und das Bild des gesichtslosen Freundes hatte sich auf ein Neues in sein Gehirn gebrannt.
    „Dave“, flüsterte er in die Dunkelheit.
    Dave. Sie hatten sich im Kindergarten kennengelernt und waren von da an unzertrennlich gewesen. Alles hatten sie gemeinsam gemacht und durchgestanden. Die Schulen. Die ersten Beziehungen, verbunden mit seinem Coming-out. Familiendramen. Sie waren immer füreinander da gewesen. Und dann diese Nacht.
    Ricky fuhr sich mit zitternden Fingern übers Gesicht. Es war nicht nur Schweiß, der seine Wangen benetzte. Tränen flossen unaufhaltsam hinab, bahnten sich ihren Weg über seine Haut und tropften ihm vom Kinn. Je mehr Ricky wegwischte, desto mehr folgten. Er erinnerte sich noch sehr genau an diese schrecklichen Minuten. So sehr er auch versucht hatte sie zu vergessen und in Alkohol zu ertränken. Daves Tod hatte ihn trotzdem jedes Mal aufs Neue eingeholt.
    Instinktiv sah Ricky sich im Zimmer um. Nein. Er befand sich nicht in seinem Loft in New York. Er war in Alaska. Hier würde er seinen neuen besten Freund, Jack, sicher nicht finden. Kein Jack Daniels. Deswegen war er hier. Daves Tod hatte ihn in einen bodenlosen Abgrund gezogen. Zerfressen von Selbstvorwürfen und den Erinnerungen an jedes Detail des Unfalls war er immer weiter abgerutscht. Nun war er hier – um wieder auf die Beine zu kommen.
    Am ganzen Leib zitternd erhob Ricky sich und ging ins Badezimmer. Ein schmales, viel zu blasses Gesicht starrte ihm aus dem Spiegel über dem Waschbecken entgegen. Die kurzen schwarzen Haare standen wild in alle Himmelsrichtungen ab und die dunklen Ringe unter den fiebrig glänzenden braunen Augen betonten die eingefallenen Wangen. Ricky riss sich von seinem Spiegelbild los.
    Kaltes klares Wasser spülte den Schweiß und die Tränen von seinem Gesicht und endlich schaffte er es, sich wieder zu beruhigen. Viel zu viele dieser Nächte hatte er durchgestanden. Würde das je ein Ende nehmen? Sein Blick glitt zum Fenster. Es war stockdunkel draußen. Lange konnte er also nicht geschlafen haben. Ricky war sich sicher, dass er jetzt keinen Schlaf mehr finden würde. Trotzdem löschte er das Licht und tastete sich die Treppe empor bis ins Schlafzimmer. Er pellte sich mühsam aus den verschwitzten Klamotten und sank in die weichen Kissen.
    „Dave“, flüsterte er ein zweites Mal. „Du fehlst mir so sehr.“
     
    Als er zum zweiten Mal erwachte, schien fahles Tageslicht ins Zimmer.
    Ricky setzte sich in seinem Bett auf. Es war kälter im Zimmer geworden, aber er störte sich nicht daran. Die Luft war klar und das Licht versprach einen schönen Tag. Sein erster Tag in dem neuen Haus. Wie sollte er den nicht genießen?
    In die Decke gewickelt wankte er zu dem schwarzen Ofen und entfachte das Feuer aus der Restglut neu. An diese Art der Beheizung musste er sich in der Tat erst einmal gewöhnen. Der Vorteil war allerdings, dass seine Hände etwas zu tun hatten, was laut seines Betreuers in der Klinik das A und O war.
    Als das Feuer wieder brannte, stellte er sich ans Fenster und genoss den Ausblick. Jetzt, wo es taghell hell war, konnte er sehen, was ihm in der Dämmerung am Vortag entgangen war. Ein weitläufiges Gebirge am Horizont und kleine Waldableger überall in der Ferne. Er hörte Vögel zwitschern und sonst gar nichts. Nicht einmal das Leben im Dorf. Über Nacht hatte es nicht wieder geschneit, seine Fußspuren vom abendlichen Spaziergang waren immer noch zu erkennen. Er schmunzelte leise. Dann bemerkte er allerdings etwas, was seine Gesichtszüge wieder erstarren ließ. Dort unten im Schnee, weit weg zwischen Haus und Waldrand, bewegte sich etwas nahe seiner Spuren. Ein braungelbes Bündel schien sich durch den Schnee zu schleppen. Ein verletztes Tier? Was sonst konnte es sein?
    Ohne darüber nachzudenken, warf er die Decke ab und schlüpfte in seine Schuhe. Im nächsten Moment war er auch schon draußen und folgte mit zitternden Muskeln und wachen Augen seiner eigenen Fußspur auf der Suche nach dem Etwas, das vom Fenster aus deutlich zu sehen gewesen war.
    Stirnrunzelnd schaute er sich um, als er den Bäumen näher kam und das Tier noch immer nicht gefunden hatte. Zwei Schritte weiter blieb er wie erstarrt stehen, als er Blutspuren im Schnee entdeckte. Sein Herz pochte vor Aufregung hart und schnell
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