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Wolfsinstinkt

Wolfsinstinkt

Titel: Wolfsinstinkt
Autoren: L Seidel
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vor allem lichtdurchflutet.
    Ricky stellte sich vor eines der großen Fenster und sah auf die schneebedeckte Wildnis hinaus, die ihn hier umgab. Kein Lärm, keine Menschen, kein hektischer Trubel, keine Ablenkung. Stattdessen Einsamkeit und fast unberührte Natur. Hier wollte er den Teil in sich wiederentdecken, der ihm im Großstadtdschungel von New York verloren gegangen war. Diese Idee war ihm vor einer Weile gekommen, urplötzlich, als würde ihn etwas Seltsames in diese Einöde rufen. Der Ruf in seinem Inneren war immer lauter geworden, bis er ihm nachgegeben hatte.
    Seine Agentin hatte ihn für verrückt gehalten, seine Mutter hatte ihn nicht für voll genommen und seine Schwester hatte angedroht, ihn sofort zu besuchen, wenn er sich nicht regelmäßig bei ihr meldete. Wahrscheinlich hatte sie tatsächlich Sorge, dass er von einer Lawine verschüttet oder von einem Bären gefressen werden könnte. Tatsächlich vermutete Ricky allerdings, dass sie alle froh darüber waren, dass er nun hier war.
    Ihm war durchaus bewusst, dass er in den letzten Monaten keine angenehme Gesellschaft gewesen war, und die neunundzwanzig Tage, die er wegen Alkohol am Steuer in einer Entzugsklinik hatte verbringen müssen, um nicht in den Knast zu wandern, hatten ihm letzten Endes die Augen geöffnet.
    Er atmete tief ein und wandte sich von der traumhaften Aussicht ab. Auch in diesem Zimmer gab es einen kleinen Ofen in der Ecke. Lange nicht so schick wie der Kamin im Wohnzimmer, doch sicher gut genug, um das Schlafzimmer für die Nacht zu heizen.
    Mit ein paar Handgriffen schaffte er es, ein zweites Feuer zu entfachen. Ein weiterer Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass die Tage hier anscheinend fr üher endeten, denn es wurde allmählich dunkel. Ricky beschloss, dass er sich die Gegend noch ein wenig ansehen wollte, bevor die Nacht vollkommen hereinbrach. Außerdem brauchte es sicher etwas Zeit, bis das Haus warm wurde.
    Er tauschte die nasse Hose gegen eine trockene, stellte ein Eisengitter vor den Kamin, damit das Haus nicht vollkommen ausgebrannt war, wenn er zurückkehrte, und verließ schließlich sein neues Heim.
    Wie er ausgerechnet darauf gekommen war nach Alaska zu ziehen, statt sich einen wärmeren Ort auszusuchen, war ihm nach wie vor schleierhaft. Doch irgendetwas hatte ihn hierher gezogen. Etwas hatte ihm eingeflüstert, dass dies der richtige Ort für ihn wäre und dass er hier seine Antworten finden würde. Auf welche Fragen auch immer. Blieb nur zu hoffen, dass es nicht der Alkohol gewesen war, der ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt hatte. Doch es fühlte sich nicht so an, im Gegenteil, jetzt, da er über das verschneite Land schaute, hatte er das Empfinden, dass ein Teil in seinem Inneren freudig aufjaulte.
    Wie zuvor knirschte der Schnee unter seinen Stiefeln und machte das Laufen schwer, aber Ricky genoss diese Art Anstrengung. Es hatte etwas Ursprüngliches an sich, so durch den kniehohen Schnee zu stapfen, der unberührt wie ein frisches Leintuch über der Erde lag. Einen winzigen Augenblick schoss ihm der Vergleich mit einem Leichentuch durch den Kopf, und er ärgerte sich über diese Assoziation. Verdammt, er musste aufhören, in so morbiden und makaberen Bahnen zu denken! Das wirkte sich sogar bis in seine Arbeit aus und war mit ein Grund dafür gewesen, warum er lange Zeit der Meinung gewesen war, das Leben ohne Alkohol nicht ertragen zu können.
    Plötzlich stand er am Waldrand und konnte sich nicht erklären, wie er hierhin gekommen war. Ihm war nicht bewusst gewesen, so weit gegangen zu sein, doch als er sich zu seinem Haus umdrehte, war es nur noch ein schwarzer Schatten in der zunehmenden Dunkelheit. Einzig ein unregelmäßiges Flackern durch die unteren Fenster erhellte das Bild. Ricky brummte unwillig und machte sich an den Rückweg. Hoffentlich erreichte er das Haus, bevor die Nacht ganz über ihn hereinbrach. Langsam wurde er müde, jeder Schritt fiel ihm schwerer als der vorange gangene, und er war heilfroh, als er endlich die Veranda erreichte und schon von hier aus das Knistern des Feuers im Kamin hörte.
    Es dauerte nicht lange und Ricky hatte sich aus der dicken Jacke und den nassen Stiefeln befreit. Inzwischen war es fast richtig warm im Haus. Dennoch nahm er sich zur Sicherheit eine Wolldecke aus einer seiner Kisten und setzte sich damit vor den Kamin. Das Feuer bot die einzige Lichtquelle hier unten. Draußen herrschte inzwischen vollkommene Dunkelheit. Er reckte sich ein Stück, zog seinen
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