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Wolfsfieber

Wolfsfieber

Titel: Wolfsfieber
Autoren: R Adelmann
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fasste seine Schulter mit beiden Händen und zog
    seinen Körper zu mir. Mit einer fließenden Bewegung lan-
    dete sein Rücken auf der Branddecke. Ich schloss für eine
    Sekunde die Augen und atmete laut aus. Ich konnte es noch
    nicht über mich bringen, ihm ins Gesicht zu sehen. Ohne
    allzu genau hinzublicken, breitete ich die blaue Decke aus
    meinem Wagen über seinem Körper aus. Bevor ich ihm ins
    Gesicht sah, untersuchte ich seine Hüfte. Er schien keinen
    Bruch zu haben, soweit ich das beurteilen konnte. Aber eine
    Wunde war deutlich zu sehen. Meine Mutter war Kranken-
    schwester, deshalb befand sich immer eine Flasche mit Des-
    infektionsmittel in unseren Erste-Hilfe-Kästen. Dafür war
    ich jetzt sehr dankbar. Ich nahm mir eine der Kompressen,
    riss die Verpackung mit den Zähnen auf, beträufelte sie mit
    der Desinfektionslösung und legte sie auf die rote Stelle an
    seiner Hüfte. Ein paar Streifen Pflaster brachte ich an den
    Seiten zur Fixierung an. Was nun? Ach ja, ich sollte mir den
    Oberkörper noch ansehen, erinnerte ich mich.
    Ich beugte mich über ihn und sah deutliche Prellungen
    über seinen linken Rippen. Sie mussten angeknackst oder
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    gebrochen sein. Seine Hände und Arme waren voller Ab-
    schürfungen, Blut und Kies von der Fahrbahn. Er musste
    den Aufprall mit den Händen abgefedert haben. Ich konnte
    es nicht länger hinauszögern. Schuldgefühle hin oder her.
    Ich musste diesem Mann ins Gesicht sehen, so weh es auch
    tat zu wissen, wem ich das angetan hatte.
    Ich hatte keine Wahl.
    Unsicher wandte ich meinen Blick von seiner Brust ab
    und seinem Gesicht zu. Ich erkannte ihn sofort, obwohl ich
    diesen Mann erst ein einziges Mal in meinem Leben gesehen
    hatte. Doch ihn hätte ich immer wiedererkannt. Dieser lang
    gezogene Brauenbogen, die hohen slawischen Wangenkno-
    chen, das markante Kinn mit dem Dreitagebart und dieser
    zarte, gerade Nasenrücken. Ich hatte keinen Fremden ange-
    fahren. Es war der neue Mann im Dorf. Der junge Bibliothe-
    kar, der erst vor zwei Wochen nach St. Hodas gezogen war.
    Ich kannte ihn eigentlich nicht. Ich hatte nur kurz für die
    Bibliotheksstory mit ihm gesprochen, auch wenn mir dieses
    Gespräch noch ganz klar im Gedächtnis war. Wieso musste
    es ausgerechnet er sein? Wieso musste ich ausgerechnet die-
    sen jungen Mann verletzen? Wieso musste mein Unfallopfer
    Istvan sein? Wieso musste das hier passieren?
    Es traf mich wie ein Blitz. Ich hatte noch immer keinen
    Notarzt gerufen. Jetzt stieg die Panik erneut wie ein saurer
    Schwall in mir hoch. Wie konnte ich das nur vergessen, wie
    konnte ich mich von seinen Gesichtszügen so ablenken las-
    sen, dass ich sogar vergaß, ihm die nötige Hilfe zu besorgen?
    Ich kramte hektisch in meiner Tasche nach meinem Handy.
    Ich hielt es in der rechten Hand und versuchte es mit der
    linken, vor dem Regen zu schützen. Ich tippte hektisch die
    Notrufnummer ein und presste das Handy an mein Ohr. Mit
    angehaltenem Atem lauschte ich dem Wählton.
    Plötzlich, völlig aus dem Nichts, umfasste eine blutver-
    schmierte Hand meinen Arm und flehte: „Auflegen. Bitte!“
    Ich gehorchte automatisch der hypnotischen Stimme, als
    hätte ich gar keine Wahl. Er war nicht länger bewusstlos,
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    doch er lag noch immer auf der Straße, in meine Decke ge-
    hüllt. Ich dachte, er hätte einen Schock, und überlegte mir
    ein paar beruhigende Worte: „Keine Sorge, du wirst wieder.
    Es tut mir so leid, ich habe dich angefahren. Es tut mir so
    leid, aber ich besorge dir sofort Hilfe. Versprochen. Ich muss
    nur kurz einen Notruf machen.“ Er schien mir aufmerksam
    zuzuhören.
    Sein Gesicht zeigte keinerlei Anzeichen von Schmerzen.
    Er schien völlig ruhig zu sein. Ich konnte es mir nur so erklä-
    ren, dass er noch an posttraumatischem Schock litt und des-
    halb noch keine Schmerzen fühlte. Ich drückte erneut die
    Wähltaste meines Handys. Wieder zog er an meinem Arm.
    „Kein Notarzt. Bitte ruf niemanden an. Bitte. Ich brauche
    deine Hilfe!“, beschwor er mich erneut, wobei mich seine
    grünen Augen bedeutungsvoll anfunkelten. Wieso wollte er
    keine Hilfe? Hier kam um diese Zeit sobald kein Auto vorbei
    und er musste doch zu einem Arzt. Was war bloß mit ihm?
    Hatte er sich etwa den Schädel angeschlagen?
    „Ich versuche ja zu helfen. Ich weiß nicht, wie ich dich
    richtig versorgen kann. Es tut mir so leid. Ich muss dir doch
    einen Arzt besorgen“, redete ich auf ihn ein.
    „Joe!“, sprach er mich mit fester Stimme und
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