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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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leben ja alle!« Und dann: »Es sollte nicht sein, es war zu schön.«
    Wenig später sollte es sein, daß die für ihre psychosomatischen Reflexionen bekannte Autorin zu einer Tagung über Psyche und Frauenleiden eingeladen wurde. Die Gynäkologen baten sie, einige Kolleginnen mitzubringen, weil sie sich von Schriftstellerinnen eine größere Offenheit versprachen. Daran ließen wir es nicht fehlen – es war ein anregendes Wochenende. Danach fragte uns Christa, ob es nicht noch offener zugehen könnte, wenn wir ohne Gynäkologen über unsere Angelegenheiten reden würden. Das war, im Herbst 1985, die Geburtsstunde unserer »Weiberrunde«. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert treffen sich seither zehn Autorinnen einmal im Monat, um ohne Öffentlichkeit, in einem geschützten Raum, in dem man sich aufeinander unbedingt verlassen kann, aus Manuskripten zu lesen, zu kochen und gegen die Vergeblichkeit anzureden.
    Wir widersprachen uns, ohne zu verletzen; und waren uns einig. Etwa darüber, daß, vor die Wahl gestellt, zu lieben oder zu schreiben, Frauen sich eher gegen die Kunst entscheiden. Christa Wolf jedenfalls hat sehr früh beschlossen, nicht auf Kosten des Lebens zu schreiben. Wie sie überhaupt überzeugt war, daß Frauen »weniger eingeübt in die Techniken der Anpassung und der Abtötung der Gefühle« sind. Es mochte Zufall sein, aber die erste Protestresolution des Schriftstellerverbands gegen die erstarrten Gesellschaftsstrukturen wurde in unserem Kreis formuliert. Christa Wolfs Rede vom 4. November 1989 hat sie am Vorabend bei uns probegelesen. Hier konnten wir auch die Zwiespältigkeit unser beider monatelanger Arbeit in der ersten unabhängigen Untersuchungskommission der DDR beraten. Und wir diskutierten die von ihr sehr präzis formulierte Präambel für den Verfassungsentwurf des Runden Tisches, in der noch ein letztes Mal »revolutionäre Erneuerung« angemahnt wurde.
    Die bald einsetzende Hexenjagd gegen Christa Wolf, das wußte sie genau, hatte weder mit ihrer Vergangenheit noch mit ihren Büchern zu tun, sondern mit ihrer störenden Gegenwart, in der eine moralischeLeitfigur nicht davon abließ, alternatives Gedankengut in die Vereinigung einbringen zu wollen. Solch exorzistische Rituale wie die, denen sie unterzogen wurde, kann niemand unbeschadet überstehen. In den Folgejahren habe ich sie mehr als einmal vergeblich beschworen, sich mit ihrer nach wie vor unverzichtbaren Stimme wieder hörbarer einzumischen. Christa Wolf hat die ihr verbliebene Kraft in das wunderbar souveräne Vermächtnis ihres letzten großen Buches gesteckt: »Stadt der Engel«.
    Bei unserem letzten Telefonat, als ich spürte, wie schwach und resigniert sie war, fragte ich verzweifelt, womit ich sie denn aufmuntern könne. »Na du«, sagte sie, und ich hörte trotz allem das Augenzwinkern, »du mach mal ’n bißchen Revolution.«
    »Wenn weiter nichts ist«, zwinkerte ich zurück.
    In unserer Weiberrunde haben wir auch über den Tod gesprochen. Ich erinnere mich gut, wie ich uns, allesamt Atheistinnen, einmal die Frage zumutete, ob wir denn sicher sein könnten, daß dieser offensichtlich unvollkommene Mensch tatsächlich die höchste Form der organisierten Materie ist. Ob denn gänzlich auszuschließen sei, daß da, auf von unserem am farbigen Abglanz geschulten Denkapparat nicht voraussehbare Weise, eine Überraschung auf uns warte. Ungeahnt vehement fiel Christa ein, sie würde das nicht ausschließen.
    Noch einmal hat sich der Himmel geteilt und nichts verraten.

CHRISTOPH HEIN
    Christa Wolf – und was wird bleiben?
    Es bleibt, was sie geschrieben hat.
    Sie hat einen neuen Ton in die deutsche Literatur gebracht, sie hat sich eingemischt, ihre Arbeiten waren und sind erstaunlich wirksam. Und sie wurde geliebt, mehr noch, sie wurde verehrt.
    Von ihr wollte man hören, von ihr wissen, wie es weitergehen wird, wie man weiterzugehen habe, ganz so, als sei sie eine Prophetin.
    Die Zuneigung ihrer Leser in den deutschen Ländern, in der Welt war überwältigend.
    Ich habe sie auch dafür bewundert, wie sie mit der großen, mit der übergroßen Verehrung ihrer Leser, die auch Belastung und Verpflichtung ist, umzugehen verstand. Sie blieb ruhig, wirkte kräftig, bemühte sich, die allzu hohen Erwartungen und Ansprüche zu erden. Ihre schöne Ruhe war erstaunlich. Mit Herzlichkeit, mit natürlicher Offenheit und immer mit dieser direkten Klarheit konnte sie sich dieser fast erdrückenden Zuneigung erwehren, diese mit einer
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