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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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daß der ganze Inhalt deines Kopfes mit verlorengeht, wenn du stirbst?– Freilich. Außer dem, was du aufgeschrieben hast. – Ach. Dieser Bruchteil. Es scheint dich nicht zu stören. – Ich denke nicht andauernd daran. – Ich schon, seit kurzem. Nun schweigst du. Was ich noch sagen wollte: Wir werden älter. – Danke für die Mitteilung. – Gute Nacht.
    Eine ferne Stimme. Ein ferner Ort. Menschenmassen, ein Demonstrationszug, der sich in Richtung Rotes Rathaus bewegt, ohne eine Anweisung zu brauchen. Aus den U-Bahnschächten strömen sie auf den Alexanderplatz, richten ihre Schilder auf, entfalten ihre Transparente. Eine Mischung von Fröhlichkeit und Stolz und Entschlossenheit geht von ihnen aus, die du weder vor- noch nachher auf so vielen Gesichtern gesehen hast und die dich ansteckt. Du fühlst, wie die Ängste der Nacht sich auflösen, sie schwinden, als dir am frühen Morgen rund um den Alexanderplatz die Ordner mit den orangefarbenen Schärpen KEINE GEWALT in bester Stimmung entgegenkommen, Theaterleute, du kennst viele, eine befreundete Schauspielerin kommt auf dich zu. Brecht, sagt sie, da hätte er dabeisein sollen: Haben wir beschlossen: nunmehr schlechtes Leben /  Mehr zu fürchten als den Tod . Daß sein Stück von der Bühne auf die Straße springt. Und das Wunder, daß die Losung KEINE GEWALT im ganzen Land, von jedermann befolgt wird.
    Eine provisorische, aus einem Leiterwagen errichtete Tribüne, auf der die Redner sich abwechseln. Eswar das Unvorstellbare, das sich in Wirklichkeit verwandeln wollte. Und das, ihr ahnt es, nur eine historische Sekunde andauern konnte. Aber es hat es gegeben. Die Blumenhändlerin, die vor ihrem Geschäft steht und Flugblätter verteilt: Jetzt muß man dabeisein. Das darf man nicht versäumen.
    Später Häme, Hohn und Spott, natürlich. Utopieverbot. Aber diese offenen, aufgerissenen Gesichter habe ich doch gesehen. Diese glänzenden Augen. Diese freien Bewegungen.«
    Sie hören jetzt Christa Wolf, die den Schluß des Buches liest.

S chweigend fuhren wir aus der Stadt, die funkelnde, glitzernde Oase, die mitten in die Wüste gesetzt war, um uns in Versuchung zu führen. Sanna saß am Steuer, ich neben ihr. Wir fuhren und fuhren, es wurde unmenschlich heiß, die Klimaanlage unseres Autos schaffte es nicht mehr, die Temperatur zu regeln.
    Death Valley. Ja, so hatte ich mir die Wüste vorgestellt, endlose blendende Sandhügel. Sengende Hitze. An der Tankstelle Warnhinweise, niemals allein in die Wüste zu gehen oder zu fahren, und niemals ohne Wasservorräte. Jedes Jahr fordere sie immer noch Opfer.
    Totes Tal. Tal der Toten. Dort lagen sie alle, meine Toten, und quälten sich aus ihren Gräbern, während ich über sie hinflog. Sieh nur hin, sagte Angelina. Wie lange war sie schon neben mir? Wie lange schwebten wir schon über der Landschaft? Ich dachte, ob die Toten mir vielleicht etwas sagen wollten. Angelina, die meine Gedanken kannte, sagte: Nein. Das sei ein Aberglaube der Lebenden, daß die Toten eine Botschaft für sie hätten. Zu ihren Lebzeiten waren sie nicht klüger, als die Lebenden es heute sind.
    Im Tod lernt man nichts. Das fand ich traurig.
    Angelina beachtete Stimmungen nicht. Sie wollte gar nicht wissen, ob ich Angst hatte vor der unheimlichen Anziehungskraft der Toten. Wir flogen der Küste zu. Das unvergleichliche Gefühl des Fliegens, Angelina neben mir. Ich wußte, daß es ein Abschied war. Eine Arbeit ist getan, Angelina, aber warum bleibt das Gefühl der Vollendung aus? Ein Wort trieb mir zu, das ich seit Wochen unbewußt gesucht hatte: Vorläufig. Eine vorläufige Arbeit ist zu einem vorläufigen Schluß gekommen.
    Angelina lachte: Aber ist es so nicht immer?
    Wir kamen vom nördlichen Rand her direkt hinein in den dichten Smog über L.A. Downtown blieb rechts liegen. Das kleine Land, aus dem ich kam, war es zu unbedeutend, um Anteilnahme zu verdienen? Stand über ihm von Anfang an nicht das Menetekel des Untergangs: Ins Nichts mit ihm? Wäre es möglich, daß ich um einen banalen Irrtum so sollte gelitten haben?
    Angelina erklärte kategorisch, das spiele keine Rolle. Gemessen würden nur Gefühle, keine Tatsachen.
    Es mochte ihr Beruf sein, da Bescheid zu wissen. Ich aber mußte mich fragen: Gemessen von wem? Mit welchem Maß? Angelina schien mir gewachsen zu sein, wie sie da – jauchzend, ja, fast hätte ich dieses unpassende Wort gebraucht – über die Landschaft flog, hin zum Yachthafen mit seinen Masten und weißen Segeln, weiter
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