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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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zuvor schrieb sie mir, daß sie und Gerhard nach Frankreich kommen möchten, »vielleicht etwas länger. Immer denke ich, wenn ich mal für ein paar Wochen ›draußen‹ bin, werde ich aufatmen, und immer erlebe ich, wie ich die ganze DDR auf dem Buckel mitschleppe«. Von einer Sehnsucht, sie möchte nach Wahlverwandtschaft in einer Gesellschaft von Gleichen leben, höre ich noch Christa sprechen und sehe sie den Duft eines wilden Thymians einatmen. Das war bei einem Ausflug in die Provence nach der Veranstaltung an der Universität von Aix-en-Provence. Während desselben Besuchs 1985 rückten zur »Kassandra«-Lesung im Kulturzentrum der DDR in Paris beachtliche Massen von Bewunderern in die Hallen am Boulevard Saint-Germain. Ein Verantwortlicher wurde sichtlich unruhig. Das war er nicht gewohnt. Auch zur Signatur in der Buchhandlung »Le Roi des Aulnes« stand eine Schlange Menschen auf dem Bürgersteig.
    Lange vor und lange nach 1989 konnte Christa feststellen, daß sie in Frankreich eine treue und leidenschaftliche Leserschaft hat.
    Von der französischen Presse wurde sie schnell als die größte Schriftstellerin, erst der DDR , dann der deutschen Sprache erkannt. Später als immenses Talent der Weltliteratur. Von Anerkennung über dieGrenzen hinaus zeugt der Preis der Stadt Bordeaux von 1997, der »den Beitrag ausländischer Autoren [...] zur Beförderung humanistischer Verbindungen zwischen den Völkern« würdigt. Würdigung und Sympathie kamen zum Ausdruck, als der Kulturminister Jack Lang im September 1990, einige Wochen nach der Übersetzung von »Was bleibt«, Christa mit dem Orden Officier des Arts et Lettres auszeichnete. Diese Ehrung, sagte Christa in ihrer Rede, sei eine willkommene Ermutigung.
    Als ich dieser Tage meinen Aktenstapel durchsah, konnte ich die große Zahl der französischen Autoren bemessen, die durch ihre Beiträge, ihre Anwesenheit bei Veranstaltungen oder letztens durch ihr Beileid bekundet haben, wie wichtig das Werk von Christa Wolf für ihre eigene Arbeit ist. 1
    Auch Musiker wurden von ihren Werken inspiriert: Michael Jarrell von »Cassandre« und Michèle Reverdy von »Médée«.
    Insbesondere durch »Kindheitsmuster« wurde uns in Frankreich der Werdegang einer deutschen Generation einsichtig, betont Nicole Bary. Der Romancier Michel Host bezeichnete das Buch als den »Brunnen des deutschen Gedächtnisses«. Auch Menschen aus anderen Bereichen, wie Historikeroder Psychoanalytiker, haben manchmal spät, aber mit Begeisterung das Werk entdeckt, zum Beispiel mit »Ein Tag im Jahr«. Seine enthusiastische Besprechung dieses Buches schließt Christophe Kantcheff – in Anlehnung an Thomas Manns Satz im Exil »Wo ich bin, ist Deutschland« – mit den Worten: »Où est Christa Wolf, là est l’humanité«, »Wo Christa Wolf ist, da ist die Menschheit« und die Menschlichkeit, denn das französische Wort »humanité« hat beide Bedeutungen.
    Gestern Tschernobyl. Heute Fukushima. Die Erzählung »Störfall« endet mit dem Satz: »Wie schwer, Bruder, würde es sein, von dieser Erde Abschied zu nehmen.« Ja, auch wenn uns deine Bücher bleiben, wie schmerzhaft ist es, liebe Christa, von dir Abschied zu nehmen.
    1 Unter anderen Annie Ernaux, Danièle Sallenave, Cécile Wajsbrot, Pierre Bergounioux, Henri Deluy, Didier Daeninckx, Bernard Noël, Marie Goudot, Michèle Gazier, Michel Besnier, Jean-Baptiste Para, Dominique Dussidour, Yves Boudier, Baptiste-Marrey.

ANITA RAJA
    Ich bin die Übersetzerin Christa Wolfs ins Italienische. Seit 1984 habe ich einen Großteil ihrer Bücher übersetzt. Ich hatte somit das Glück, das Privileg, die einzigartige Gelegenheit, ihre italienische »Stimme« zu werden. In ihren Worten zu wohnen. Ihre Worte in meine Sprache zu übertragen und die Botin sein zu dürfen, die ihre Stimme in Italien sprechen ließ, zu einem breiten Publikum, das sie geliebt und geschätzt hat.
    Die italienischen Leser haben sich mit ihren Werken identifiziert, die dem Prinzip »das Private ist politisch« eine hohe literarische Form gaben, Bilder voller weiblicher Freiheit zeichneten, Worte, Modelle, Beispiele und Symbole lieferten, aus denen wir alle schöpfen konnten. Weil sie zeigten, daß man nicht mehr nur auf lineare Weise erzählen muß, sondern ein neues, anderes Erzählen möglich war; daß Regeln, Muster, Schemata und Zeiten umgekehrt werden konnten; daß sich die Schwierigkeit, »ich« zu sagen, in ein mehrschichtiges Schreiben, eine »Grammatik der vielfachen,
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