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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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gleichzeitigen Bezüge« übertragen ließ; daß sich »Geschichte« nicht erzählen ließ, wenn man nicht auch aussprach, was sich »hinter«, »unter« und »jenseits« von ihr – im Alltäglichen – verbarg; daß man die Idee einer besserenGesellschaft, das Bedürfnis nach Ethik und den Stellenwert der Utopie nicht in Frage stellen durfte; daß die Suche nach dem Sinn nicht aufzugeben sei.
    Durch den ständigen Umgang mit den Worten eines Autors entsteht eine ganz besondere Beziehung, eine Nähe zu ihm. Eine große Schriftstellerin zu übersetzen ist eine den Übersetzer zutiefst bereichernde Erfahrung. Das Aufnehmen von Christa Wolfs Auseinandersetzung mit der Sprache hat mich dazu geführt, auch meine eigene Sprache vermehrt zu erforschen und bewußter einzusetzen, und mich auf Wege gebracht, die zu gehen ich vorher kaum vermocht hätte. So sehr, daß ich den Eindruck bekam, Christa Wolfs Texte seien Ausdruck meiner selbst, daß ich sie gern genauso schreiben würde, wie sie geschrieben waren, und daß Christa sie für mich geschrieben hatte.
    Aber durch das Übersetzen von Christa Wolfs Werken habe ich vor allem eine Erfahrung gemacht: daß die Beziehung zwischen zwei Sprachen auch eine Beziehung zweier Menschen ist. Und Christa, die ich 1984 kennengelernt habe, ist für mich vom ersten Moment an ein Beispiel an Menschlichkeit, Nähe, Konkretheit, Neugierde, Teilnahme und Großzügigkeit gewesen. Immer wenn wir miteinander sprachen und bis zuletzt fragte sie mich vor allem nach den Kindern, der Familie, der Gesundheit, nach der Politik und der Arbeit, nach ganz gewöhnlichen und alltäglichen Dingen, denen sie viel Zeit und Aufmerksamkeit schenkte, bis das Gespräch in fließendem Übergang irgendwann auf die Bücher und die Übersetzungsprobleme kam.
    Ich schließe mit einem Wort aus »Nachdenken über Christa T.«:
    »Nichts könnte unpassender sein als Mitleid, Bedauern. Sie hat ja gelebt. Sie war ganz da.«

VOLKER BRAUN
INFERNO IV. LIMBUS
    »Nein, nicht die Hölle wars, es war der Vorhof
    Wo ich verbrachte meines Lebens Langzeit« /
    »Und kein Wehklagen gab es, nur ein Stöhnen
    Unverhohlen – uuh! – in der Versammlung« /
    » Gram ohne Qualen ... « / »Und wenn man Verdienste
    Vorwies, es genügt nicht, weil wir ohne
    Glauben waren, der verordnet wurde« /
    »Ich glaubte lange auch ...« / »Nicht richtig, wie
    Nicht unverbrüchlich« / »Zweifelnd, und verzweifelt«.
    So sprachen sie, und stöhnten wie vor Wollust:
    »So dienten wir und schadeten der Sache
    Ob solchen Mangels, nicht ob andren Fehles
    Zwar nicht verloren, aber nicht gelitten«.
    Wir hörtens an; und als wirs sagen hörten
    Faßte ein Schmerz mich, weil wirs wieder sagen
    Mußten jetzt, im langen Rest des Lebens.
    Denn nicht befreit war ich aus meinem Zustand
    Unbelehrt von Zeit und Züchtigungen
    Ich hatte ja den Glauben nicht gefunden
    Im Kaufhaus, wo es nichts gab was es nicht gab
    Wers glaubt wird selig! »Ward je einer frei hier
    Durch fremde oder eigne Leistung? Nein.«
    Nicht bremsten wir, so quasselnd, unsre Schritte
    Und lachend kurvten wir durch all die Schatten
    Brecht und Eisler, Cremer, Busch
    Und Heise, Bloch sowie sein Schüler Teller
    Bahro und Biermann (als er jung gewesen)
    Und Fühmann, Christa, die ernst grinsend grüßten.

INGO SCHULZE
    »Meine Damen und Herren, jetzt sollte ich sagen: Ich danke Ihnen. Ein simpler, deutschsprachiger Satz, hierher gehörig. Subjet, Prädikat, Objekt. Was fehlt ihm denn, oder mir? Ich weiß nicht, ob Sie es hören können: Er klirrt. Als hätte er einen feinen Sprung.«
    So beginnt die Rede, die Christa Wolf 1978 zur Verleihung des Bremer Literaturpreises hielt.
    »Ich danke dir« ist der Satz, der als erster auftaucht, wenn ich jetzt an Christa Wolf denke. Ihn öffentlich auszusprechen läßt ihn klirren, als hätte er einen feinen Sprung.
    Schon die Du-Form erscheint mir als Anmaßung, wir kannten uns eigentlich kaum. Als ich Christa Wolf vor anderthalb Jahren hier in diesem Haus fragte, wie wir uns bei ihrer Buchvorstellung anreden sollten, und vorschlug, besser ins sachliche »Sie« zu wechseln – wie es ja vor großem Publikum nicht unüblich ist –, da wies sie mein Ansinnen entschieden, ja brüsk zurück.
    Ihr Kollegen-Du hat mich von unserem ersten Kennenlernen an verwirrt – auf Du und Du mit Christa Wolf, das war eigentlich nicht vorstellbar – und zugleich sehr gefreut. Diese Geste kollegialer Achtung über alle Unbekanntheiten hinweg ist zum Glücknicht
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