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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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unüblich, doch bei niemandem sonst schien dieses Du so viel Raum zu überbrücken.
    Das Verb, also »danken«, bleibt schwierig, selbst wenn ich die Assoziation zu jenem unseligen Danke-Lied verdränge. Jemandem zu danken kann der Hilfe die Selbstverständlichkeit nehmen, die sie haben sollte. Je vertrauter derjenige ist, um so schwieriger. Und öffentlich danken? Setzt man sich da nicht selbst in Szene?
    Ich bin Christa Wolf persönlich zuerst in der Öffentlichkeit begegnet, vor etwa zehn Jahren. Ungewöhnlich genug war, daß Schriftsteller ins Kanzleramt geladen waren, der Krieg in Afghanistan mit deutscher Beteiligung stand bevor. Christa Wolf war die einzige Frau unter fünfundzwanzig Gästen. Nachdem der Austausch von Standpunkten vorüber war, ein Gespräch konnte man das nicht nennen, ging ich auf sie zu, weil ich ihr danken wollte. Zum einen weil sie, da meine Frage an den Bundeskanzler unbeantwortet geblieben war, an meiner Statt nachgefragt hatte und so meine Existenz in jenem Raum wiederhergestellt hatte, zum anderen, weil sie an diesem Ort aus ihrer »Kassandra« zitiert hatte: »Laßt Euch nicht von den Eignen täuschen.« Kein anderer Satz faßte die Situation so treffend zusammen wie dieser. Ich dankte ihr also, sie überhörte das oder wischte es weg. Weiter kamen wir nicht, der Kanzler trat auf sie zu. Nach und nach kamen andere hinzu, wir gingen Schritt um Schritt zurück, um den Kreis zu öffnen.Es brauchte keine zehn Minuten, und Christa Wolf und ich waren jene, die nicht mehr in dem Kreis standen. Ich weiß bis heute nicht, wie diese Diskussionschoreographie vor sich gegangen war, was wir falsch gemacht hatten, jedenfalls standen wir wieder zu zweit da. Ich war verwirrt und aufgebracht, und sie – lachte.
    Ich – der Leser. Ich war vierzehn und hatte gerade erst begonnen, Buchläden aufzusuchen, als mich der Anblick eines Exemplars von »Kindheitsmuster« irritierte. Ich hatte dieses Buch immer nur in Bücherschränken gesehen, nie in der Öffentlichkeit. Nach allem, was ich gehört hatte, war dieses Buch doch verboten und die Autorin im Westen? Ich weiß nicht, woher ich das hatte. Jedenfalls kaufte ich es in dem Gefühl, auf einen gefährlichen Schatz gestoßen zu sein. Die Enttäuschung folgte prompt: Für den an Hermann Hesse geschulten Leser war das nichts. Mit dem Gefühl, etwas entdeckt zu haben, hatte ich allerdings nicht unrecht. Denn jener Kauf blieb tatsächlich die einzige Gelegenheit, die sich mir vor 1989 bot, dieses Buch zu erwerben. Zu ihrem Leser wurde ich mit sechzehn, da erschien »Kein Ort. Nirgends« und dann die »Kassandra«. Dankbar war ich ihr im Herbst 1989, weil sie zusammen mit anderen Schriftstellern die Augenzeugenberichte sammelte, in denen die Übergriffe der Uniformierten, die sich gar nicht so selten auch als Folter beschreiben lassen, geschildert wurden. Die Neunziger hindurch– man kann das durchaus Hochmut nennen – las ich sie nicht, ich versuchte Abstand zur DDR zu gewinnen, die eigene Vergangenheit wurde erst allmählich wieder interessant. Doch spätestens mit »Ein Tag im Jahr« war ich wieder ihr Leser. Als Leser schaue ich hier durch die Zeit zurück, als würde ich wie ein Perlenfischer durch einen bodenlosen Eimer auf den Meeresgrund blicken.
    Christa Wolf war aber auch eine begnadete Leserin. Ist es vermessen zu sagen, daß wir Schreiber auch eine Leserin verlieren, jemanden, auf dessen Nachfrage man zählen konnte, Nachfragen, die nicht beim Geschriebenen haltmachten?
    Gegen Ende ihrer Bremer Rede heißt es:
    »Ohne Anteilnahme kein Gedächtnis, keine Literatur. Ohne Hoffnung auf Anteilnahme keine lebendige, nur gestanzte Rede«.
    Für diese Anteilnahme, auch an mir, danke ich dir.

KATJA LANGE-MÜLLER
    Sie hat sich gequält mit der Wahrheit, es sich nie und nirgends leichtgemacht. Sie hat ihre Leser, also uns, spüren lassen, wie widersprüchlich wir sind und wie selektiv, unzuverlässig, aber dennoch intensiv unsere Erinnerungen, sogar die an uns selbst. Sie war eine freundliche, gelegentlich auch fröhliche, offene und allemal hilfsbereite Schriftstellerkollegin. Daß und wie sehr sie uns fehlt, das werden wir erst nach unserem augenblicklichen Kummer über diesen enormen Verlust so richtig tief erfahren, wenn wir sie wieder lesen, um ihr nahe sein zu können, leider nur noch auf diese Art.
    Das hatte ich im ersten Schreck geschrieben. Als ich nun damit anfing, sie erneut zu lesen, und »Kindheitsmuster« zur Hand nahm, mein Lieblingsbuch
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