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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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nachts, auf der Überfahrt, als aus jeder Himmelsrichtung die Wetter unser Schiff zu zerschmettern drohten; niemand sich hielt, der nicht festgezurrt war; als ich Marpessa betraf, wie sie heimlich die Knoten löste, die sie und dieZwillinge aneinander und an den Mastbaum fesselten; als ich, an längerer Leine hängend als die anderen Verschleppten, bedenkenlos, gedankenlos mich auf sie warf; sie also hinderte, ihr und meiner Kinder Leben den gleichgültigen Elementen zu lassen, und sie statt dessen wahnwitzigen Menschen überantwortete; als ich, vor ihrem Blick zurückweichend, wieder auf meinem Platz neben dem wimmernden, speienden Agamemnon hockte – da mußte ich mich fragen, aus was für dauerhaftem Stoff die Stricke sind, die uns ans Leben binden. Marpessa, sah ich, die, wie einmal schon, mit mir nicht sprechen wollte, war besser vorbereitet, auf was wir nun erfahren, als ich, die Seherin; denn ich zog Lust aus allem, was ich sah – Lust; Hoffnung nicht! –, und lebte weiter, um zu sehn.
    Merkwürdig, wie eines jeden Menschen Waffen – Marpessas Schweigen, Agamemnons Toben – stets die gleichen bleiben müssen. Ich freilich hab allmählich meine Waffen abgelegt, das wars, was an Veränderung mir möglich war.
    Warum wollte ich die Sehergabe unbedingt?
    Mit meiner Stimme sprechen: das Äußerste. Mehr, andres hab ich nicht gewollt.
    Christa Wolf, Kassandra

ULLA BERKÉWICZ
    Du hast die Zwiesprache gewollt, nicht das Selbstgespräch, das Aussprechen und Aufhorchen, das Nachttelefon, den Sonntagsbrief, die Botschaft über den Tag hinaus. Was ist mit dir, was ist mit mir, fragst Du Dich und mich und jeden, der da liest in Deinen offenen Büchern.
    Auch wenn Du nicht mehr allen gehört hast in den letzten Jahren – mit großem Fug und Deinem ganzen Recht –, Du warst doch da, Du warst doch mit uns in dem Spielkreis eingeschlossen, dem Ort der Handlung, der kleinen, schrillen, grell erleuchteten Arena im stillen, schwarzen Riesenraum, warst unser Alibi, warst die Entlastung, die Rechtfertigung, warst die Rechtfertiga im klassischsten Gewand.
    Die großen Worte, Deine, für alle Fälle die, trug man im hintern Kopf verborgen: Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit und Ernst und Würde, und Sehnsucht auch, ja klar. Am unbedingtesten ist eh die Sehnsucht, das deutscheste der deutschen Wörter. Man sollte uns am Grad unserer Sehnsucht messen, bemessen sollte man uns nach ihm, beurteilen, verurteilen oder freisprechen. Der Grad unserer Sehnsucht, der Sehnsuchtsgrad, ist der einzige Gradmesser, kommt mir vor, die Auslotung der Sehnsucht, der Sehnsuchtsbegabung, der Sehnsuchtsfähigkeit, der Sehn­suchtssehnsucht. – Die Sehnsucht war mir Deine Hauptsache.
    Und wenn wir dann vorm Pfarrhaus im alten Land dort oben, wo die Schafe walten und die Gräber sprechen und die Dohlen um die roten Backsteintürme kreisen, gesessen haben und getrunken und gelacht, warst Du so gerne in der Welt, daß jeder Deiner Sinne doppelt zählte. Und wenn wir dann gesungen haben, alle Lieder, die Du kanntest, und Du kann­test viele, mit allen ihren Strophen, und wenn wir jeden Satelliten am dunkeln Himmel überm weiten Land zum Sputnik erklärten und Du vom Da-Sein nicht genug kriegen konntest, und wenn Du dann in solcher Nacht die »Erinnerung an die Marie A.« gesungen hast: »Und über uns im schönen Sommerhimmel / War eine Wolke, die ich lange sah / Sie war sehr weiß und ungeheuer oben / Und als ich aufsah, war sie nimmer da«, war die Sehnsucht an ihrem Platz.
    Manchmal haben wir uns davongemacht aus unseren Zusammenhängen, waren zu zweit unterwegs und haben von der Liebe gesprochen. Manchmal auch vom Schreiben. Manchmal auch vom Tod. Und davon, »daß unsere Blindheit« – so hast Du’s aufgeschrieben in einem Deiner letzten Essays »Nachdenken über den blinden Fleck« –, »daß unsere Blindheit gegenüber den letzten Wahrheiten in das Netzwerk, dem wir auch selber angehören, mit eingewebt ist«; und warn uns darin einig, daß die Erlebnisse, die man hat, die Erkenntnisse, die man erwirbt, die von derLiebe und vom Tod, nicht in die herr­schenden Muster und Konzepte passen. Daß man die alten Worte dafür suchen muß, um die neuen zu finden – und daß am Ende doch das Staunen steht, so wortlos wie am Anfang, und daß das Staunen einsetzt und nie wieder aussetzt, wenn die Sehnsucht endet. Und daß das Ganze, auch darin warn wir einig, letzt­endlich nur ein poetisches Unterfangen sein kann, auf einer un­möblierten Bühne wie
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