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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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ich nicht mehr schreiben können«, hast du einst gesagt über deinen Entschluß, beim 11. Plenum zu sprechen. Es gibt etwas, eine Eigenschaft, die vielleicht altmodisch klingt und die ich vor allen anderen mit dir verbinde – Anständigkeit.
    Oft habe ich überlegt, wie es für dich ist, deine Kinder und uns Enkel zu beobachten – mit unseren Handys, die du nicht benutzt hast, vertieft in Mails, die du nie geschrieben hast, und auf Reisen gehend zu Orten, nach denen du dich nie gesehnt hast. Abund zu müssen dir die Dinge, die uns besetzt und beschäftigt haben, seltsam oder hohl erschienen sein. Gesagt hast du nie etwas dergleichen. Du hast uns immer in allen unseren Irrungen und Wirrungen akzeptiert und damit bestärkt.
    Für mich ist eure Wohnung eine Art geschützter Raum, ein Wehr gegen die Anfechtungen und Geistlosigkeiten der Gegenwart. Ich weiß nicht, wie es wird ohne dich an diesem Ort. Es ist, als trete ich über die Schwelle in ein anderes Jahrhundert. In eine Welt, von der ich das Gefühl habe, daß es sie bald nicht mehr geben wird. Eine Welt, in der Goethe und Jandl rezitiert, Volkslieder gesungen werden, in der dem geschriebenen Wort gehuldigt wird und in der Dummheit das schlimmste Schimpfwort ist. Eine Welt, in der noch Briefe geschrieben, Anfragen und Lesermeldungen beantwortet werden. Du hast viel von dir gefordert.
    Du warst und bist eine besondere Oma. Wer kann schon sagen, daß er gemeinsame Freunde mit seiner Großmutter hatte, gemeinsam über die gleichen Bücher, Filme, Texte oder immer wieder darüber, was auf diesem Planeten geschieht, reden konnte. Du warst wirklich interessiert an der Welt und ihren Bewohnern, bis zum buchstäblich letzten Augenblick hast du uns immer danach befragt, wie es uns geht und was wir denken. Du hast zu allen Verbindung gehalten. Auch, daß wir als Familie am Ende in deinen letzten Stunden da waren, bei dir sein wolltenund konnten, ist zum großen Teil dein Verdienst. Wir haben dich sehr geliebt.
    Nun gibt es Nora, die nächste Generation, deine dreijährige Urenkelin. Ich bin sehr froh, daß ihr euch noch kennenlernen konntet. Auch Nora hat jetzt das berühmte Schokoladenfach in eurer Kommode entdeckt, und gesungen habt ihr auch miteinander. Als es dir schon sehr schlecht ging, wollte Nora zu dir ins Krankenhaus gehen und ihren Arztkoffer mitnehmen. Sie wollte dir helfen. Richtig begriffen, daß du fort bist, hat sie noch nicht. Das haben wir, glaube ich, alle noch nicht. Wie auch? Du fehlst.

RUTH MISSELWITZ
    Wir nehmen Abschied von
    Christa Wolf geb. Ihlenfeld.
    Im Alter von 82 Jahren hat der Tod sie von uns genommen.
    Umsorgt von ihrem Mann
    und umgeben von ihrer Familie
    erlebte sie die letzten Monate, Wochen und Tage
    in Hoffnung und Sorge.
    Ihr seid gemeinsam jeden Schritt
    bis ans Ende mit ihr gegangen.
    Es war ein friedliches, ein sanftes Hinübergleiten.
    Ihr habt sie losgelassen,
    so wie sie euch losgelassen hat.
    Wir bleiben zurück mit unserer Trauer, unserem Schmerz
    und unserer Angst, ohne sie weiterleben zu müssen.
    Sie ist nicht mehr an unserer Seite,
    sie hat sich unserer Berührung entzogen.
    Ohne sie wird alles anders sein
    und wir fürchten uns vor der Veränderung.
    Sie hat uns geprägt, dieses Land und diese Zeit.
    Sie hat die Erde und das Leben geliebt.
    Ich habe Christa erlebt als eine Frau mit spiritueller Kraft,
    die sich gelöst hat von religiösen und ideologischen Dogmen.
    Sie hat es sich dabei nicht leichtgemacht.
    Sie hat im Leben und Schreiben ihre und unsere Erfahrungswelten transzendiert
    und so die Quellen des Lebens gesucht.
    Und ich bin sicher, daß sie mit diesen verbunden ist.
    Mit jedem Ende und Übergang öffnen sich Räume neuer Begegnung.
    Wir werden das in Zukunft ganz unterschiedlich mit ihr erfahren,
    eine neue Beziehung zu ihr gestalten.
    Ich bin sicher, wir werden jede und jeder auf seine und ihre Weise erleben,
    daß sie unter uns weiterlebt.
    So geben wir sie aus unseren Händen.

Akademie der Künste, Berlin

NELE HERTLING
    Der Präsident der Akademie der Künste Klaus Staeck kann leider heute abend nicht bei uns sein. Er bedauert das außerordentlich und sendet Ihnen allen seine besten und herzlichen Grüße. Seine Bitte, Sie stellvertretend im Namen der Akademie der Künste zu begrüßen, erfülle ich gern und stütze mich dabei auf einen von ihm bereits formulierten Textentwurf.
    Zur Erinnerung an Christa Wolf haben wir uns an einem auch für sie wichtigen Ort zusammengefunden. Auf dieser Studiobühne
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