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Wohin sind wir unterwegs

Wohin sind wir unterwegs

Titel: Wohin sind wir unterwegs
Autoren: Zum Gedenken an Christa Wolf
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der attischen, auf der’s von A. wie Aischylos an spricht und spricht: Wer weiß denn, ob das Leben nicht eigentlich der Tod ist und der Tod nicht eigentlich das Leben.
    Und ging’s Dir denn nicht immer darum, daß wir uns Vorstellungsräume schaffen, Bewußtseinsfelder, die wir uns einbilden, um sie auszubilden, aus sich selbst heraus. Daß wir Erinnerungen horten, Erwartungen türmen, Baustoff für unsre Bücher, Rohstoff für den Gedan­kenhimmel, in den wir eingehn werden, Werkstoff, aus dem wir, nachdem wir uns aus der Materie gezogen haben, unsere Vorstellungswelt bauen können, die schwingt wie wir und die sich reimt auf unsren Namen. Und hierin, in diesem Sammeln, Anfüllen, Reichern, wußtest Du, liegt der Sinn des ganzen Unterneh­mens, das da Hier heißt und Jetzt.
    Als ich sie das letzte Mal sah – und hier verbietet sich mein Du –, hatte sie auf­gehört zu atmen. Wie stark und stolz sie aussah. Wie eine, die ihre Arbeit getan hat. Feierabend.
    Der Dichterin, der ihr Staat mißtraut hatte und die doch von den Feinden dieses Staats mit diesem Staat in eins gesetzt war, weil sie in ihr das sahen, was dieses Staates beste Chance gewesen wäre, seine Idee wirklich zu machen – der Dichterin war die Sehnsucht aus dem Gesicht ver­schwunden, das Sterben hatte aufgehört. Daß alles sonst aufhört, auch hier warn wir uns einig, daran glaubt eh ja nur der letzte Heuler noch.
    »Nun also der Tod«, heißt es in »Nachdenken über Christa T.«. »Stück für Stück nimmt sie sich, nimmt etwas sie zurück.«
    Die Bücher aber werden bleiben.

FRIEDRICH SCHORLEMMER
    »Der Mensch hat nichts so eigen,
    so wohl steht ihm nichts an,
    als daß er Treu erzeigen
    und Freundschaft halten kann.«
    Simon Dach
    Christa Wolf konnte Freundschaft halten.
    Sich treu, auch anderen treu,
    ihren Grundüberzeugungen treu –
    und in allem Wandel treu,
    konnte sie Freundschaft halten,
    Widerspruch aushalten, Haltung behalten.
    Sie hatte stets ein offenes Ohr für Bedrängte, Besorgte, für Geschlagene. Sie war eine große und großartige Briefschreiberin.
    Weil sie ein so offenes Ohr und ein so weites Herz hatte, mußte sie auch Distanz halten.
    Gebraucht wurde sie, verehrt, geliebt.
    Sensibilität hat ihren Preis.
    Sie hat ihn gezahlt.
    Sie hat niemanden verraten. Auch sich nicht.
    Die Hechelmeute schere sich davon.
    Sie hat beherzt widersprochen. Sie hat sich den Widersprüchen gestellt und sie zur Sprache gebracht.Sie war nicht widersprüchlich, aber zerrissen von dem, was sie (voraus)sah und was sie erlebte.
    So dankbar bin ich, daß es sie gab.
    Für mich, für so viele.
    Begegnungen wecken Erinnerungen:
    1964 war ich in Halle Statist für den Film »Der geteilte Himmel«. Der wollte und wollte im November nicht aufklaren. Die Szene wurde gestrichen. Nicht hell genug.
    1972 las sie in Potsdam vor Pädagogikstudenten – in kleinerem Kreis – aus »Lesen und Schreiben«. Ich sah die leuchtenden Augen der Studentinnen. Prosa helfe zum Subjektwerden, zur Differenzierung, zur Sensibilisierung.
    Ihre Texte schafften das. Jahr für Jahr.
    Seit 1989 bin ich Christa und Gerhard Wolf oft persönlich begegnet, und wir sind einander nähergekommen. Kein Brief blieb ohne handschriftliche Antwort.
    1993 – ich hatte das völlig vergessen – schrieb sie mir aus Santa Monica: »Mir kommt es heute menschlicher und auch weiterführender vor, wenn man sich ruhig ansehen kann, so, wie man ist, und daran nicht verzweifelt, nichts Unmögliches von sich fordert, sondern sich annimmt, den Schmerz nicht vermeidet, der damit verbunden ist, nicht ausweicht, eben einfach für sich selbst ganz da ist ... Den Vorgangdes Vergessens kann man nicht beeinflussen, es ist weder Schuld, zu vergessen, noch Verdienst, nicht zu vergessen. Und ich bin dankbar dafür, daß ich vergessen hatte, anscheinend schon sehr früh. Wie hätte ich all die Jahre mit diesem Wissen leben und schreiben sollen, wem mich offenbaren können. Also. Der liebe Gott hat’s schon ganz gut gefügt – auch damit, daß er Sie zu meinem Freund gemacht hat.«
    Hatte Christa Wolf damit nicht etwas von dem begriffen, was in meiner Sprache »Gnade« genannt wird? Sie, die dem Christlichen mit guten Gründen ferne stand ... Ja, nichts Unmögliches von sich fordern, sondern sich annehmen als eine Angenommene. Sie hat Menschen gefunden, die sie geliebt haben, bedingungslos, und sie hat sich anzunehmen gelernt, ohne sich das je leichtzumachen.
    2002 warnte sie mich mit ihrer humorvollen
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