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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt
Autoren: Kristin Hannah
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und näherten sich Mercer Island. In der Ferne würde Alice die schneebedeckten Berge sehen - die Gegend, aus der sie gekommen war. Aber hier würde die Luft ganz anders riechen, Smog und Autoabgase, die dicht besiedelte blaue Bucht.
    Schließlich verließ sie das Zimmer. Im Erdgeschoss war es still, abgesehen vom Geklapper des Kochgeschirrs. Max bereitete das Abendessen vor.
    Sie ging zum Tisch, der für zwei Personen gedeckt war, und tat so, als würde sie das fehlende dritte Gedeck nicht bemerken. »Was machst du denn?«, fragte sie Max, der in der Küche stand und Gemüse klein schnitt.
    Beim Klang ihrer Stimme schaute er auf.
    Ihre Blicke trafen sich. »Pfannengemüse.« Er legte das Messer weg und kam auf sie zu.
    »Das Telefon klingelt ständig.«
    »Das ist Ellie«, antwortete er. »Sie muss sich alle naselang vergewissern, dass mit dir auch alles in Ordnung ist.«
    Er legte den Arm um ihre Schulter und geleitete sie zum Fenster. Nebeneinander starrten sie auf den dunklen Hof hinaus. Der erste Stern des Abends funkelte am Himmel.
    Sie lehnte sich an ihn und genoss die Wärme seines Körpers, wobei ihr plötzlich auffiel, wie kalt ihr die ganze Zeit über schon gewesen war. Zum Glück fragte er nicht, wie es ihr ging, und machte auch keine Anstalten, ihr einzureden, dass alles gut werden würde. Er legte ihr nur die Hand auf den Nacken und gab ihr Halt. Ohne diese Berührung wäre sie womöglich abgedriftet, auf dem See der Einsamkeit immer weiter hinausgetrieben. Doch mit dieser einen schlichten Geste erinnerte er sie daran, dass sie nicht alles verloren hatte und dass sie nicht allein war.
    »Ich frage mich, was sie wohl jetzt gerade macht.«
    »Lass es gut sein«, entgegnete er leise. »Du kannst nur warten.«
    »Worauf?«
    »Auf den Tag, an dem du lachen musst, wenn du an ihr Geheul denkst, oder daran, wie sie Blumen gegessen und versucht hat, mit Spinnen zu spielen, statt zu weinen.«
    Nur zu gern hätte Julia seinen Worten Glauben geschenkt und sie als tröstlich empfunden. Als Psychologin wusste sie, dass er recht hatte. Doch die Mutter in ihr hatte ihre Zweifel.
    Es klingelte an der Tür.
    Um die Wahrheit zu sagen, war sie froh über die Unterbrechung. »Hat Ellie ihren Schlüssel vergessen, oder was?«, fragte sie, während sie sich über die Augen wischte und zu lächeln versuchte. »Eigentlich hätte ich sie nicht zur Arbeit schicken sollen. Aber ich hab gedacht, es würde ihr bestimmt besser gehen, wenn sie bei Cal ist.«
    »Hilft es denn?«, fragte Max. »Ich meine, hilft es, mit jemandem zusammen zu sein, der einen liebt?«
    »So weit das eben geht.«
    Er nickte.
    Julia löste sich von ihm, ging zur Tür und öffnete sie.
    Da stand Alice. Unvorstellbar klein und vollkommen verängstigt. Sie rang die Hände, wie sie es immer tat, wenn sie aufgeregt war, und sie hatte die Schuhe verkehrt herum an den Füßen. Aus ihrem Mund kam ein halb ersticktes, verwirrtes Heulen. Nässende, blutige Striemen überzogen ihr Gesicht.
    Hinter ihr wartete George Azelle. Sein attraktives Gesicht war blass und voller Sorgenfalten, die Julia bisher noch gar nicht wahrgenommen hatte. »Sie glaubt anscheinend, dass sie weggeschickt worden ist, weil sie böse war.«
    Die Worte trafen Julia wie ein Schlag, mitten ins Herz. Sie fiel auf die Knie. »O Schätzchen, du bist doch so ein liebes Mädchen. Das beste Mädchen überhaupt!«
    Alice begann zu weinen, still und verzweifelt. Ihr ganzer Körper bebte, aber sie gab keinen Laut von sich.
    »Benutz deine Wörter, Alice.«
    Doch das Mädchen schüttelte den Kopf und heulte, ein langgezogenes durchdringendes Jaulen.
    Julia berührte sie. »Benutz deine Wörter, Liebes. Bitte.«
    Mit aller Macht spürte sie erneut den Verlust, ein Schmerz, der ihr fast das Herz brach. Sie konnte das nicht noch einmal aushalten. Keiner von ihnen konnte das. Sie wusste, dass Alice sich ihr in die Arme werfen und sich festhalten lassen wollte, aber Angst hatte. Denn das kleine Mädchen glaubte, dass sie böse gewesen war und ein zweites Mal verlassen werden würde - genau wie damals, vor vielen Jahren. Und zu dieser Angst gehörte auch, dass sie nicht sprechen wollte.
    George Azelle stieg langsam die knarzende Verandatreppe empor.
    Panisch rannte Alice vor ihm weg, drückte sich flach an die Hauswand und stolperte dabei über die metallenen Hundenäpfe, die klirrend umkippten. Der Lärm durchschnitt die kühle Nachtluft, verhallte, und es war wieder ganz still.
    Azelle blickte von Alice zu Julia.
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