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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt
Autoren: Kristin Hannah
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wie eine Schlange. Die Musik ist so laut, dass es ihr in den Ohren wehtut.
    Langsam macht sie die Augen auf. Ihr ist komisch, wacklig und übel, und sie ist müde. Wenn sie nicht aufpasst, wird alles, was in ihrem Magen ist, durch den Mund wieder rauskommen. Sie leckt sich über die trockenen Lippen und sieht sich nach Dschulie und Lellie um.
    Aber die sind nicht da.
    In ihrem Innern steigt Panik auf. Das Einzige, was sie daran hindert zu schreien, ist ihre Müdigkeit. Aus irgendeinem Grund kann sie kein lautes Geräusch machen. (Er kann wahrscheinlich ihr Herz hören, es ist so laut, dass er sie sicher anschreien wird. Sie legt die Hand darauf, damit es leiser wird.)
    »Dschulie?«, fragt sie den Mann.
    »Sie ist in Rain Valley. Wir sind schon weit weg. Doch von nun an bist du bei mir, Brittany, und alles wird gut.«
    Sie versteht nicht alle seine Worte. Aber sie kennt weg. In ihren Augen steigt das Wasser. Es tut weh, das Weinen. Sie wischt die Tränen weg und wundert sich ein wenig, dass sie so klar sind wie Wasser, nicht rot wie Blut. So fühlen sie sich nämlich an. Als hätte jemand sie wieder mit dem scharfen Messer gepikt und sie würde bluten. Sie erinnert sich daran. »Dschulie Mommy weg. Alice böses Mädchen.«
    Der Mann sieht sie an. Er runzelt die Stirn. Sie weiß, jetzt wird er sie schlagen, aber das ist ihr egal. Dschulie ist nicht mehr da, um alles gutzumachen.
    Schon wenn sie daran denkt, steigt wieder das Wasser in ihren Augen. Leise fängt sie an zu heulen, obwohl sie weiß, dass keiner da ist, der sie hört. Sie ist zu weit weg. Sie heult lauter, verzweifelter.
    »Brittany?«
    Sie sagt nichts. Stillsein ist ihr einziger Schutz. Niemand kümmert sich mehr um sie, deshalb muss sie klein und still sein.
    Sie schließt die Augen, lässt den Schlaf wiederkommen. Es ist besser, von Dschulie zu träumen, zu tun als ob. Im Traum ist sie ein gutes Mädchen und Dschulie Mommy hat sie lieb.
    * * *
    Etliche Stunden später - Julia hatte jegliches Zeitgefühl verloren - schickte sie Max wieder nach unten und Ellie zurück an die Arbeit. Den ganzen Tag hatten alle beide sie mit ihren gut gemeinten Trostversuchen fast verrückt gemacht, und sie brauchte ihre ganze Kraft, sich einigermaßen aufrecht zu halten und nicht einfach loszuschreien, bis sie heiser war. Sie konnte die Menschen, die sie liebte - und die sie liebten -, kaum ansehen, denn das machte den Gedanken an Alice irgendwie noch schmerzhafter.
    Durchs Schlafzimmerfenster starrte sie hinaus auf den leeren Garten.
    Vögel.
    Im Frühling würden diese Vögel kommen, um Alice zu besuchen ...
    Hinter ihr stupsten sich die Hunde freundschaftlich an, nachdem sie fast eine Stunde überall nach ihrem kleinen Mädchen gefahndet hatten. Jetzt lagen sie nebeneinander vor Alices Bett und warteten mehr oder weniger geduldig auf ihre Rückkehr. Ab und an stießen sie ein langgezogenes Jaulen aus.
    Julia warf einen Blick auf ihre Uhr und überlegte, wie lange der Ferrari nun schon weg war. Ein paar Stunden erst, und doch fühlte es sich bereits an wie ein halbes Leben.
    Halb sechs. Inzwischen mussten sie fast in Seattle sein. Das majestätische Grün von Alices geliebtem Wald würde allmählich dem stumpfen Grau des Betons Platz machen, in dem sie sich so fremd fühlen würde wie ein Besucher von einem anderen Stern. Ohne Julia würde Alice in ihrer Entwicklung zurückfallen und wieder in ihrer schrecklichen, stummen Welt Zuflucht suchen. Ihre Angst war viel zu groß, sie würde nicht mit ihr umgehen können.
    »Birte, Gott«, flüsterte Julia laut. Es war ihr erstes Gebet seit vielen Jahren. »Hab ein Auge auf mein kleines Mädchen.
    Lass nicht zu, dass sie sich wehtut.«
    Langsam wandte sie sich vom Fenster ab ... und sah die Topfpflanzen. Bevor Alice gekommen war, hatten sie an verschiedenen Stellen im Haus gestanden. Doch jetzt bildeten sie ein Wäldchen - Alices Versteck.
    Sie wusste, sie musste Distanz gewinnen, aber sie brachte es nicht fertig. Langsam wanderte sie hinüber zu den Pflanzen und strich über ihre glänzend grünen Blätter. »Ihr werdet sie auch vermissen«, sagte sie heiser, und es war ihr gleichgültig, dass sie mit Pflanzen redete. Es spielte keine Rolle, wenn sie sich ein bisschen verrückt aufführte, sie war ja momentan nicht die kluge, vernünftige Psychologin. Sie war eine ganz gewöhnliche Frau, die ein ungewöhnliches Kind vermisste.
    Fast sechs. Wahrscheinlich waren sie jetzt auf der schwimmenden Brücke, überquerten Lake Washington
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