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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du?
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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nicht von ihnen Besitz ergreife.
    In den wildesten Zeiten unserer Pubertät bekannte meine Mutter einmal, sie habe sich immer gewünscht, dass einer ihrer Söhne Geistlicher werde. (Gottlob findet sie heute Journalisten auch ganz gut.) Das führte natürlich zu wütendem Hohngelächter und war das sicherste Mittel, uns genau von diesem Weg fernzuhalten. Aber es hinderte mich keinesfalls daran, gerade in jenen Jahren immer wieder in einem Kloster von Benediktinerinnen Urlaub zu machen, die mich, obwohl ich lange Haare und hochhackige Lederstiefel trug, freundlich und neugierig aufnahmen; mit einer Schwester stehe ich nach Jahrzehnten noch in Verbindung.
    Als Krankheit und Tod meine Familie trafen wie Vernichtungswaffen und Trauer und Verzweiflung sich unseres Lebens bemächtigten, da stellten sich selbst bei meiner frommen, zum Katholizismus konvertierten Mama jene quälenden Zweifel ein, die wohl zu jedem erwachsenen Glauben gehören und auch nie mehr aufhören: Wenn es dich gibt, lieber Gott, wie kannst du diesen Schmerz zulassen?
    Dazu kam, immer wieder, der Ärger über die Verfehlungen der Amtskirche: Was habe ich mit anderen geschimpft über Papst Wojtyla, der uns dogmatisch erschien wie ein Ajatollah! Was haben wir uns lustig gemacht über die Marotten seiner Amtsführung, das Küssen der Landebahnen zum Beispiel in jenen Ländern, denen er einen Besuch abstattete. Ganz zu schweigen von den zwielichtigen Machenschaften der vatikanischen Bank IOR, die intensive Geschäftsbeziehungen zur Mafia unterhielt und von einem Monsignore geleitetwurde, der in Personalunion ein Gangster und ein Vertrauter des Papstes war. Und damals wussten wir noch gar nichts über den massenhaften Missbrauch kleiner Jungen durch pädophile Kirchenmänner.
    Mir ist trotzdem nie in den Sinn gekommen, aus der Kirche auszutreten; schwer verständlich, weil kleinlich, finde ich es, wenn Menschen erklären, sie täten das allein wegen der Kirchensteuer.
    Anfang 2005 begann das lange, öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul II. Man konnte es kaum mit ansehen, kaum aushalten. Die Haltung immer gebückter, die Hände immer zittriger, die Stimme immer brüchiger. Der Papst, der – wie nur wenige vor ihm – für Vitalität und Sicherheit im Glauben gestanden hatte, wurde zur Verkörperung von Siechtum und Vergänglichkeit. Und er wollte das ganz offensichtlich auch sein – der Gegenentwurf zu einer Gesellschaft, in der jeder immer nur zu funktionieren hat, am besten gesund und gut aussehend. Am Anfang hat es mich noch irritiert, dann beeindruckt. Schließlich, als nach einer letzten kaum noch zu verstehenden Ansprache am Ostersonntag auf dem Petersplatz klar war, dass er innerhalb von Tagen sterben würde, war ich geradezu überwältigt. Ich lag stundenlang auf dem Bett und trauerte, als sei ich dabei, einen meiner liebsten Angehörigen zu verlieren.
    Wenige Stunden vor seinem Tod machte ich mich mit meiner späteren Frau auf den Weg zur St.-Hedwigs-Kathedrale in der Nähe des Berliner Gendarmenmarkts. Es war schon spät, und in der Kirche waren viele junge Leute, die nicht so aussahen, als seiensie geübte Besucher von Gottesdiensten. Wir zündeten Kerzen an und verharrten in Andacht. In diesem Moment fühlte ich mich ganz und gar eins mit meiner Kirche. Das Gefühl war: Nicht wir waren ihm, dem Papst, im Sterben nahe, sondern der Papst war sterbend bei uns. Er hatte am Ende vorgelebt, was fast jeder Mensch früher oder später erfährt: Dass es nichts Wichtigeres gibt, als in der Stunde des Leids für einen anderen Menschen da zu sein – oder selbst nicht allein zu bleiben.
    Nein, es war kein Erweckungserlebnis. Seit einigen Jahren jedoch haben wir zu Hause etwas aufleben lassen, was lange verschüttgegangen war: Vor dem Essen wird still gebetet, auch wenn Gäste da sind. Sehr oft ist das der schönste Moment des Tages.
    Vor vielen Jahren, als ich meine ersten Bücher geschrieben hatte, stellte man mir ab und zu eine dieser seltsamen, manchmal aber doch ganz lehrreichen Interviewfragen: »Haben Sie ein Vorbild für das, was Sie machen?«
    Natürlich hatte ich nicht nur ein Vorbild, sondern mehrere, aber nicht in dem Sinn, dass ich alles zu machen versuchte wie sie. Sondern so: Ich weiß, dass große Autoren oft eine bestimmte Sache besonders gut können, ganz handwerkliche Dinge meine ich vor allem. Wenige konnten in knappen Sätzen die Stimmung eines Tages oder eine bestimmte Szenerie so gut beschreiben wie Georges Simenon. Kaum einer
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