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Wofuer die Worte fehlen

Wofuer die Worte fehlen

Titel: Wofuer die Worte fehlen
Autoren: Carolin Philipps
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es, er möchte zurückwinken, ihr zeigen, wie froh er ist, sie wieder zu sehen. Und doch steht er nur da, die Arme steif am Körper wie die Soldaten in Herrn Malerts Film. Er hat Angst, dass sie sich bei der leisesten unbedachten Bewegung wie eine Fata Morgana in der Wüste auflösen und wieder aus seinem Leben verschwinden könnte.
    Er wartet, bis sie näher kommt, beobachtet, wie der Vater sie in den Arm nimmt und an sich drückt. »Endlich!«, sagt er. »Jedes Mal bleibst du länger fort!« Es klingt vorwurfsvoll, Kristian hält den Atem an. Hoffentlich beherrscht sich der Vater. Hoffentlich rastet er nicht hier am Bahnhof aus. Es wäre nicht das erste Mal.
    Sie schaut ihn nur verwundert an. »Wenn es meiner Mutter besser gegangen wäre, hätte ich früher kommen können«, sagt sie mit ihrer leisen Stimme. Auch in ihrer Stimme schwingt die Sorge vor einem dieser unkontrollierten Wutausbrüche mit, für die Kristians Vater in der ganzen Familie bekannt und gefürchtet ist.
    Die Mutter nimmt Kristian in den Arm und drückt ihn fest an sich. Er versteckt sein Gesicht in ihrem Mantel. Niemandsoll die Tränen bemerken, die in seinen Augen stehen, seit er die Mutter gesehen hat. Tränen der Freude, aber vor allem Tränen einer unendlichen Erleichterung.
    Das Grummeln in seinem Bauch ist nur noch von fern zu spüren.

Vier Stunden später sitzt Kristian zusammen mit seinen Eltern, seinem Onkel Vladimir, seiner Tante Irina und ihrer Tochter Eva im kleinen Wohnzimmer seiner Schwester.
    Katarina hat seit vier Jahren eine eigene Wohnung zusammen mit ihrem Freund Janusch. Seit sechs Monaten haben sie einen kleinen Sohn: Tobias.
    Einerseits war Kristian froh, als Katarina mit einundzwanzig auszog, denn wegen ihr haben sich die Eltern ständig gestritten. Andererseits vermisst er sie, vor allem dann, wenn die Mutter wieder einmal in die Slowakei fährt und er mit seinem Vater alleine zurückbleibt.
    Heute aber ist die Welt in Ordnung. Die Mutter hat eine ganze Tasche mit slowakischen Spezialitäten mitgebracht, und so sitzen die Erwachsenen um den Tisch herum, erzählen von früher, als sie alle noch in dem kleinen Dorf gewohnt haben, lachen und freuen sich, dass sie durch die Familie ein Stück Heimat in der Fremde erhalten haben.
    Als dann im Laufe des Abends auch noch die jüngste Schwester der Mutter, Tante Olga, überraschend vorbeikommt, um die neuesten Nachrichten von Oma Herta zu erfahren, sind alle begeistert, wie gut doch die Familie zusammenhält, vor allem dann, wenn es Probleme gibt.
    Â»Ein Hoch auf die Familie!«, ruft Onkel Vladimir und hebt sein gefülltes Glas Sliwowitz. Sie prosten sich zu, auch Kristian und Eva bekommen ein Glas, ein Viertel gefüllt.
    Während Eva sich vor Ekel schüttelt, kippt Kristian den ganzen Inhalt auf einmal in seinen Hals. Es ist nicht das erste Mal, dass er Sliwowitz trinken darf. Der Vater hat ihmschon öfter ein Gläschen eingegossen. Es schmeckt Kristian nicht, aber er liebt die Wirkung, die der Alkohol in seinem Bauch hat. Er legt sich wie ein warmer tröstender Mantel über seine Bauchschmerzen und wandert dann nach oben in seinen Kopf. Dort verbreitet er ein angenehmes Gefühl von Leichtigkeit. Nach dem zweiten Glas glaubt man zu schweben, und alles, was danach geschieht, tut nicht mehr weh. Es ist so, als würde es jemand anderem passieren, es ist so …
    Â»Kristian!« Empörung und Sorge halten sich die Waage in der Stimme seiner Mutter. Sie reißt ihm die Sliwowitzflasche aus der Hand, mit der er sich ein zweites Glas einschenken wollte. »Ein Glas war schon zu viel! Mein Gott, du bist nicht mal fünfzehn! Willst du als Säufer enden?«
    Â»Na, so schnell wird man nicht zum Säufer!« Onkel Vladimir schlägt Kristian lachend auf die Schulter. »Er ist fast fünfzehn! Fast schon ein Mann.«
    Â»Ein Glas reicht! Deine Mutter hat recht.«
    Kristian schaut den Vater verwundert an. Seit wann denn das? Sonst hat der Vater auch nichts dagegen. Schon lange reicht Kristian das warme Bauchgefühl nach dem ersten Glas nicht mehr, er sehnt sich immer öfter danach, zu schweben, nichts zu fühlen, aber dazu braucht er ein zweites Glas.
    Er macht den Mund auf, um zu protestieren, als der warnende Blick des Vaters ihn trifft, ein Blick aus grimmigem Eis, der die Wärme in seinem Bauch von einem Moment zum anderen erfrieren lässt.
    Die
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