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Wofuer die Worte fehlen

Wofuer die Worte fehlen

Titel: Wofuer die Worte fehlen
Autoren: Carolin Philipps
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Bauch wieder an leise an zu grummeln. Natürlich wird er kommen, er wollte auch am letzten Samstag nicht fehlen. Aber er ist sie einfach nicht losgeworden, die furchtbaren Krämpfe in seinem Bauch, die meistens nachts beginnen und häufig den ganzen Tag andauern.
    Aber heute kommt seine Mom endlich zurück, allein der Gedanke daran vertreibt die Schmerzen. Vier Wochen hat er seine Mutter nicht gesehen. Sie musste ganz plötzlich wie schon unzählige Male vorher zur Großmutter in die Slowakei fahren. Die ist fast achtzig und lebt nach dem Tod ihres Mannes ganz alleine in der Nähe von Bratislava auf ihrem kleinen Bauernhof.
    Von ihren vier Kindern wohnt keines mehr in der Slowakei. Alle sind sie im Laufe der vergangenen Jahre nach Deutschland gezogen, weil sie hier bessere Arbeit finden konnten. Als Letzte ging die Mutter fort, nicht wegen der Arbeit, sondern weil sie Kristians Vater kennenlernte und ihm in seine Heimat nach Deutschland gefolgt ist.
    Solange der Großvater noch lebte, war alles in Ordnung. Mehrmals im Jahr trafen sich alle auf dem Familienbauernhof zu fröhlichen Festen, an die Kristian noch Monate später wehmütig zurückdachte. Vor sechs Jahren aber starb der Großvater plötzlich und seitdem ist alles anders geworden. Die Familie trifft sich nach wie vor, wenn auch nur einmal im Jahr, bei der Großmutter und sie feiern auch nach wie vor wunderschöne Feste, von denen man bei der Rückkehr in den Alltag träumen kann.
    Und doch ist alles anders geworden.
    Kristian kann das Klingeln nach der sechsten Stunde kaum abwarten. Er ist so nervös, dass er mal wieder mit seinem Stuhl auf und ab kippelt, bis er zum zweiten Mal an diesem Tag nach hinten fällt, diesmal mit dem Kopf gegen die Wand schlägt und sich eine neue Beule holt.
    Und so endet der Schultag, wie er begonnen hat: Mit dem Lachen seiner Mitschüler und dem Schimpfen der Lehrerin, der Kristian durch seinen Sturz die letzten Unterrichtsminuten raubt.
    Das Klingelzeichen kommt wie eine Erlösung. Kristianpackt seinen Rucksack und rennt aus der Klasse, die erboste Stimme der Lehrerin holt ihn nur noch von ferne ein: »Kristi-an! Wo willst du hin? Den Unterricht beende immer noch ich! Komm sofort zurück!«
    Kristian winkt ihr fröhlich zu und rennt weiter. Heute kann ihn nichts und niemand aufhalten, selbst wenn er morgen mit Sicherheit einen Verweis für sein respektloses Verhalten erhalten wird.
    Am Schultor wartet der Vater auf ihn. Er nimmt ihm den Rucksack ab, legt den Arm um ihn und sagt liebevoll: »Na, dann wollen wir mal zum Bahnhof fahren. Hoffentlich hat der Zug keine Verspätung. Schließlich haben wir beide doch große Sehnsucht nach deiner Mutter! Obwohl wir uns auch ohne sie gut amüsiert haben, oder?«
    Kristian nickt. Die plötzlich aufsteigende Übelkeit schluckt er, so gut es geht, hinunter. Mit hängendem Kopf folgt er dem Vater zum Auto.
    Am Bahnhof müssen sie noch dreißig Minuten warten, der Zug aus Bratislava hat Verspätung, was bei der Entfernung nicht ungewöhnlich ist und fast jedes Mal vorkommt.
    Und doch sind es für Kristian gefühlte dreißig Stunden, angefüllt mit der Angst, dass der Zug gar nicht mehr kommt oder sie nicht darin sitzt.
    So war es schon einmal, damals, vor sechs Jahren. Da hat er auch hier gestanden, die Türen gingen auf, Menschen über Menschen stiegen aus, aber die Mutter, auf die er zwei lange Wochen gewartet hatte, war nicht dabei. Als der Vater und er wieder zu Hause ankamen, klingelte das Handy. In ihrer SMS schrieb sie, dass sie erst in einer Woche kommen könne. Oma Herta habe einen Rückfall und brauche ihre Hilfe.
    Dass auch Kristian sie brauchte, zählte nicht. Damals nicht und vielleicht auch heute nicht.
    Kristian legt die Hand beruhigend auf seinen Bauch, wo sich die Schmerzen langsam wieder ausbreiten.
    Dann endlich fährt der Zug in den Bahnhof ein. Bange Minuten, bis er zum Stehen kommt, sich die Türen öffnen und die Menschen herausströmen. Keine Mutter zu sehen. Sie ist nicht gekommen, sie ist wieder einmal länger bei der Großmutter geblieben.
    Der stechende Schmerz aus seinem Bauch lässt Kristian leise aufstöhnen. Er wirft seinem Vater einen erschrockenen Blick zu. Aber der hat in diesem Moment die Mutter entdeckt, die als Letzte ganz hinten aussteigt. Sie schaut sich suchend um und winkt ihnen dann fröhlich zu.
    Auch in Kristians rechtem Arm zuckt
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