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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
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Haus alleinzulassen.
    Vier Tage ist das her und eine Ewigkeit. Wenn mir Erich Böhme einen Rat geben wollte, habe ich ihn verstanden. Ich wohne in einem Haus, das lebt. Ich sollte ein glücklicher Mensch sein.
     
     
     
    A ls ich im Bett liege, ist Alex immer noch unten vorm Fernseher. Ich nehme das Buch in die Hand, das auf dem Tisch neben mir liegt. Kafkas »Amerika«, eine alte Ausgabe von 1967, dem Jahr, in dem ich geboren wurde. Alex' Mutter hat es uns geschenkt, als sie aus der großen Wohnung in Prenzlauer Berg in eine kleine Wohnung in Berlin-Steglitz umgezogen ist, und ich habe es nicht im Container einlagern lassen, sondern mitgenommen nach New York, weil es gut hierher passte.
    Es ist die Geschichte von Karl Roßmann, einem jungen Deutschen, der mit dem Schiff nach Amerika kommt, sich hier durchschlägt und versucht, Geld zu verdienen, Menschen kennenzulernen, dazuzugehören. Kafka hat die Geschichte vor fast hundert Jahren geschrieben, ohne jemals in Amerika gewesen zu sein. Und er hat sie nicht zu Ende geschrieben. Man erfährt nicht, ob er je angekommen ist, der junge Deutsche, ob er eine neue Heimat gefunden hat. Hinter dem letzten Kapitel hängen nur noch Fragmente, darunter eine Szene, in der eine Vermieterin namens Brunelda zu Karl sagt: »Du musst ein wenig flinker sein, wenn du willst, dass man mit dir zufrieden ist.«
    Als ich es das erste Mal las, dachte ich, Brunelda sage das zu mir.
    Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Mir ist heiß, ich habe das Fenster zugelassen und die Klimaanlage nicht angeschaltet, wegen der Luft. Auch die Klimaanlagen unserer Nachbarn scheinen ausgeschaltet zu sein. Es ist still, denke ich, zu still für New York. Ich weiß noch, wie ich Stunden nach unserer Ankunft aus Berlin in diesem Haus lag und in die Nacht lauschte, als könnten mir die Geräusche dort draußen etwas mitteilen über die Stadt, die ich nicht kannte, und über mein Leben hier, von dem ich keine Vorstellung hatte. Es war kein Brodeln, kein Stampfen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die Stadt rauschte, aber auch einzelne Geräusche waren ganz klar zu erkennen. Eine Sirene, eine Frauenstimme, das Bellen eines Hundes. Die Geräusche fehlen mir, selbst Mikes und Roxys nervendes Windspiel vermisse ich in diesem Moment.
    Ich lege das Buch zur Seite, schalte meine Nachttischlampe aus, schließe die Augen und warte auf Alex.
     
     
     
    D
er Kater kommt, er will nochmal raus. Ich lasse ihn, er hüpft die Treppen nach unten in den Garten. Ich stehe auf der Terrasse und warte, dass er zurückkommt. Es ist immer noch warm, die Sterne über New York leuchten matt. Es ist so still ohne die Flugzeuge. Die Grillen zirpen wie auf dem Land. Ich sehe an unserer Backsteinwand nach oben. Im dritten Stock, im mittleren Fenster brennt noch Licht. Anja liest. Ich renne nicht mehr weg, denke ich. Ich lasse euch nicht allein. Ich bleibe hier bei dir.
    Dann geht das Licht aus.

Was danach passierte
    N ach dem 11. September sind wir fünf weitere Jahre in New York geblieben. Seit 2007 leben wir wieder in Berlin.
    Alexander hat seinen Beruf nicht aufgegeben. In den folgenden Wochen schrieb er vor allem Geschichten aus New York, aber schon ab 2002 führten ihn seine Recherchereisen wieder aus der Stadt. Er fuhr unter anderem zum Krieg in den Irak, zu den Tsunamiopfern nach Thailand, zur Überschwemmung nach New Orleans. Und natürlich: zur Fußball-WM nach Korea und Japan. Er ist immer noch Reporter beim Spiegel und hat kürzlich seinen dritten Roman veröffentlicht. Im November 2002 ist er den New-York-Marathon gelaufen.
     
     
     
    A
njas Dave-Eggers-Geschichte wurde am 13. September 2001 in der
Zeit
veröffentlicht.
    Am 14. September erschien auf der Seite 3 der
Berliner Zeitung
eine Reportage von Anja über die Tage nach der Katastrophe. Sie erhielt in der nächsten Zeit viele Aufträge und wurde 2002 freie Auslandskorrespondentin der
Berliner Zeitung.
Heute leitet sie dort das Wochenendmagazin.
     
    Mascha und Ferdinand, inzwischen 12 und 18 Jahre alt, gehen auf eine Internationale Schule in Berlin, sprechen untereinander Englisch, aber mit uns, ihren Eltern, Deutsch.
     
    Die
Primaries
, die demokratischen Vorwahlen, wurden am 25. September 2001 wiederholt. Marty Markowitz wurde zum Bürgermeisterkandidaten der Demokraten gewählt und ist heute in dritter Amtszeit Bürgermeister von Brooklyn. Debbie hat ihren Job bekommen und sich von Walter scheiden lassen. Walter arbeitet immer noch als Dekorateur
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