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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
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einer fremden Küche, und ich kann ihr nicht zeigen, was ich fühle. Ich kann nicht mal richtig fühlen, wenn mir Liz' Mutter dabei zuschaut. Wie ein verzaubertes Tanzpaar stehen wir da, Mascha redet mit Elise, Liz mit ihrer Mutter, der Fernseher an der Decke brabbelt und von draußen rumpelt die gewaltige Klimaanlage, die Gails Nachbar Ken an seiner Küche installiert hat.
    Ein kleines, nimmermüdes Kraftwerk, um das ein jahrelanger Nachbarschaftskrieg tobte. Meine Gedanken treiben zu Ken, dem seltsamen Rentner, der im Sommer den grünen Gymnastikball mit einem Messer zerstochen hat, mit dem Ferdi und sein Kumpel Nino in seinem
Backyard
spielten. Einen AOK-Gymnastikball, der eine lange Reise hinter sich hatte. Wo ist eigentlich Ferdi? Das denke ich, während ich meine Frau im Arm halte. John wartet mit meinem Glas neben uns wie ein Kellner.
    »Na«, sage ich.
    »Na«, sagt meine Frau.
    Dann nehme ich John das Glas ab.
    Wir stoßen alle an. Gail erwähnt den Weltfrieden, während auf dem kleinen Fernseher an der Zimmerdecke Menschen vor Aschewolken wegrennen, immer wieder von vorn. Ich nehme einen großen Schluck und schaue den Flüchtenden mit Distanz zu, sie sind nun Menschen im Fernsehen.
     
     
     
    W ieder und wieder laufen die Ereignisse des Tages auf dem Bildschirm ab. Die Flugzeuge, die Türme, das Pentagon, Pennsylvania, die Taliban, immer wieder die Türme.
    Es tut gut zu lachen, es tut gut zu essen und zu trinken und mit Menschen zusammenzusein, denen man nichts erklären muss. Ich habe mich oft gefragt, ob New York schon mein Zuhause ist oder nicht, und ich glaube, an diesem Abend habe ich das erste Mal wirklich das Gefühl, dass ich hier nicht mehr fremd bin, kein Gast mehr. New York ist nicht mehr die starke, glitzernde Stadt, die ich in Berlin vor Augen hatte, die man erobern muss, um dazuzugehören. Es ist eine Stadt, die brennt, die schwach ist und verletzlich. Es ist die Stadt, in der wir wohnen, in der ich unseren Sohn heute von der Schule abgeholt habe und in der er morgen Kindergeburtstag feiern wird.
    John, Solveig, Liz, Barbara, Alexander, Walter, Debbie, Tinna (v. l.).
    Alex erzählt von seinem Tag. Irgendwann mittendrin stürzt auch noch das World Trade Center 7 ein, das bekomme ich gar nicht richtig mit.
    »Oh, my god« , ruft Liz.
    John lacht, als der Reporter fragt, wie das passieren konnte. Alle haben Angst, dass noch ein Terroranschlag folgt, noch ein Flugzeug in ein Haus fliegt, noch mehr Menschen sterben, und dann taumelt so ein kleiner Turm hinterher, um den sich niemand ernsthaft gesorgt hat.
     
     
     
    E
s sind gute Leute, die Armstrongs – Liz' Familie. Im letzten November, zu unserem ersten gemeinsamen Thanksgiving, haben sie uns zum Essen eingeladen, Gail hat den Tischsegen gesprochen, in dem wir auch vorkamen, die neuen Nachbarn aus Übersee, die sich hier wohlfühlen sollten. In ein paar Wochen werden wir hier sicher wieder
Turkey
essen. Die Besuche erinnern mich an die Besuche bei meinen Eltern. Ich muss mich um nichts kümmern, irgendjemand kocht, macht mir ein Bier auf, zündet den Ofen an. Ich kann einfach nur dasitzen, zugucken und einen Witz einstreuen, wenn mir danach ist. Niemand arbeitet bei den Medien, niemand fragt mich, woran ich gerade schreibe, niemand sagt: »Von dir habe ich aber lange nichts mehr gelesen.« Oder: »Deine frühen Sachen fand ich eigentlich besser.« Ich kann die Rüstung ablegen, weil hier niemand ist, der mich verletzen will. Meinungsverschiedenheiten enden hier nie im Streit, und wenn ich meinen amerikanischen Freunden einen Plan vorstelle, sagt niemand: »Oh, das habe ich aber vor Kurzem so schon in der Süddeutschen Zeitung gelesen.« oder »Das Thema ist ausgeschrieben.« Sie sagen: »Klingt gut.«
    Der Alkohol kickt ein, ich halte Anjas Hand verstohlen unterm Tisch. »Wo ist eigentlich Ferdi«, frage ich, während ich ihre Hand streichle. Sie sagt mir, dass er bei seinem Freund Derek schläft, und schaut unsicher. Ich sage, dass es eine gute Idee sei. Bei Derek gibt es nur die überbesorgte
Jewish Mom
Debbie, den stillen Beatles-Fan Walter und eine Katze, die keine Krallen mehr hat. Es ist der sicherste Platz in New York City. Debbie und Walter gehören auch zu meiner amerikanischen Familie. Debbie hat früher bei den
Bay City Rollers
gearbeitet, dann einen Secondhand-Laden für Baby-Sachen geleitet und betreut nun den demokratischen Bürgermeisterkandidaten von Brooklyn. Das ist eine Karriere, die mir gefällt. Walter ist Dekorateur
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