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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
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Zeichnungen. Wenn er Ängste hat, möchte er sie bestimmt nicht jetzt loswerden. Er ist erst acht Jahre alt und kommt mir oft schon so groß vor.
    »Es geht gut«, sage ich. Ich erzähle ihm von unserem Besuch bei Liz und von dem Busch, den Laura gepflanzt hat. Das freut ihn. Als ich ihm beschreibe, wie Terry vor Laura geflüchtet ist, lacht er.
    »Wir sehen uns morgen«, sage ich.
    »Ja, bye, Dad.«
    Ich halte das Telefon in der Hand. Oben singt Anja Mascha das erste Schlaflied. Ich schaue auf das Telefon, es zerrt wieder, kein Vergleich zu heute Morgen, aber etwas zerrt da noch, ein leichtes Reporterzerren, womöglich ein Phantomschmerz. Aber ich glaube, es ist eher das Zeichen, dass die Dinge bleiben, wie sie sind. In diesem Moment spüre ich, dass ich irgendwann weiterrennen werde, aber es ist zu früh, das einzusehen. Ich wollte so oft still sein heute, und ich habe immer weitergeredet. Noch einen Satz. Und noch einen letzten. Okay, gut, das mache ich noch zu Ende. Ich nehme mir den Block und rufe die Menschen an, mit denen ich heute Mittag im Keller saß, um herauszufinden, wie es ihnen geht, weil ich nicht weiß, ob ich morgen noch die Kraft habe. Und weil ich nicht weiß, ob sie morgen noch mit mir reden werden. Noch hält uns der Tag zusammen.
    Sammy Fontanecs Nummer auf dem Polizeirevier ist besetzt, David Liebman geht nicht ans Telefon. Aber Steve Weiss, der junge Mann mit den asiatischen Gesichtszügen, ist da und aufgedreht wie vorhin. Er ist den ganzen Tag durch die Stadt gerannt, sagt er und schläft heute Nacht bei einem Freund in der Upper West Side. Er kann nicht nach Hause nach Staten Island zu seinem Vater. Er wird doch hier gebraucht. Er wolle helfen, sagt er. Im Hintergrund hört man Stimmen, Gepolter, Energie. Ich kann da nicht mehr mit, ich fühle mich schwach und alt. Steven Garrin, der Anwalt und Kafka-Liebhaber, war ein paar Stunden im Krankenhaus, sie haben ihn durchgecheckt, ihm Sauerstoff gegeben, er ist jetzt wieder zu Hause und soweit in Ordnung. Vier Stunden hat er für seinen Heimweg gebraucht, er ist ganz langsam gelaufen. Das Krankenhaus war beinahe leer, sagt er, die Krankenschwestern waren sehr nett. Er klingt ruhig, besonnen. Amy Lindsey meldet sich nicht. Eileen McGuire sitzt mit ihrem Mann im Wohnzimmer. Sie war um drei Uhr zu Hause und ist dann mit ihrem Mann in die Kirche gegangen. Den restlichen Nachmittag und ganzen Abend saßen sie am Telefon und haben versucht, Kollegen von Marsh & McLennan zu erreichen. 1700 Menschen arbeiten in ihrer Firma. Bis jetzt wissen sie, dass 60 überlebt haben, sagt Eileen.
    Ich schreibe mir die Zahlen in den Block. 1700 und 60 steht da. Es sind die letzten Aufzeichnungen des Tages. Zwei Zahlen.
     
     
     
    D ie Teile des Hampelgeigers, den wir zusammenbasteln wollten, liegen immer noch auf dem Küchentisch verteilt, die Glocke ist auf die Erde gefallen, unser Kater schiebt sie mit seinen Tatzen vor sich her, als wäre sie eine Maus. Ich sammle den Rumpf und die Beine und die Arme, die Haken und die Glocke ein und packe sie zurück in die Tüte und gieße mir ein Glas Rotwein ein. Alex hat bereits eins in der Hand. Er sitzt vor dem Fernseher, da, wo ich einen großen Teil des Tages verbracht habe, und telefoniert. Erst denke ich, er redet mit Ferdinand, aber an seiner Haltung, der Art, wie er in den Hörer hineinlauscht, gierig, mehr zu erfahren, merke ich, dass er mit einem der Menschen redet, mit denen er im Keller saß.
    Wahnsinn! Das hätte ich nicht gedacht. Ich meine, ich wusste ja, dass Alex nicht aufhört zu arbeiten, aber dass er gleich in den ersten Minuten nach seiner Rückkehr schon wieder recherchiert, das hätte ich wirklich nicht gedacht. Er ist mir ein bisschen fremd in diesem Augenblick. Gleichzeitig stachelt er meinen Ehrgeiz an, auch etwas zu machen, auch über diesen Tag zu schreiben. Nur was?
    Als ich zu ihm ins Wohnzimmer gehe, verabschiedet er sich und ich rufe nochmal Ferdinand bei Debbie an. Ferdinand klingt wie immer, das beruhigt mich. Er hat mit Derek James Bond gesehen, jetzt gehen sie schlafen, morgen werde ich ihn von Debbie abholen. Die Schule fällt aus, hat Rudolph Giuliani, der Bürgermeister von New York, im Fernsehen gesagt.
    Ich frage Alex, ob wir nochmal aufs Dach gehen wollen. Ich habe Lust, etwas zu tun. Ich war den ganzen Tag mit den Kindern zu Hause und habe auf Alex gewartet. Ich bin hellwach.
    Alex rutscht zur Seite, damit ich mich zu ihm setze.
    »Du willst aufs Dach?«, fragt er müde. »Jetzt?«
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