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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
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bei Macy's. Sein Jahr ist eingeteilt in Valentinstagdekoration, Osterdekoration, Sommerdekoration, Vatertagsdekoration, Muttertagsdekoration, Thanksgivingdekoration, Weihnachtsdekoration. Auch kein schlechtes Leben. Wie mit einem sehr alten Freund kann man mit Walter immer wieder über dasselbe reden, ohne sich zu langweilen. Ich trinke mein Glas aus und John mixt sofort einen neuen Drink. Dann erzähle ich meine Geschichte, zum ersten Mal erzähle ich sie auf Englisch.
    Ich beschreibe, wie ich mich an den Polizisten vorbei auf die Brücke drängte, wie der erste Turm fiel, als ich zwischen den Pfeilern der Brooklyn Bridge stand, vom weihnachtlich anmutenden Downtown erzähle ich, vom Feuerwehrmann, der mich wegschickte, und vom Keller in der Beekman Street. Es ist ein Reisebericht für die Zuhausegebliebenen. Erstmals spüre ich die Ruhe, die einzieht, wenn ich die schwarze Wolke über mir zusammenschlagen lasse, aber auch, wie ungehörig es ist zu sagen: »In diesem Moment dachte ich, ich sterbe.« Die Geschichte lässt sich gut erzählen, sie fängt langsam an, wird immer schneller, sie ist klein und groß zugleich und hat ein
Happy End
. Sie funktioniert. Aber als ich fertig bin, fühle ich mich leer wie ein umgekippter Eimer. Ich hatte noch diese eine Geschichte, und die ist jetzt raus – das war's. Ich habe alles gesagt.
    Ich trinke das zweite Glas aus, wir essen das Fleisch und zwischendurch fällt auf dem Fernseher an der Zimmerdecke noch ein Gebäude um. Es ist ein breites, mächtiges Haus, und es sinkt zu Boden wie ein müdes Pferd. Die Stimmen der Reporter werden wieder lauter, am Bildschirmboden steht LIVE, offenbar fällt das Haus gerade vor unseren Augen zusammen. So spät noch. Die anderen im Raum seufzen und stöhnen, aber ich kann nicht mehr. Ich kann mich nicht mehr wundern, weil ich mich schon so viel gewundert habe heute, und ich versteh' es auch nicht. Ich begreife nicht, warum jetzt, wo alles vorbei ist, immer noch ein Haus umfällt, so ein großes Haus, und eigentlich begreife ich sowieso gar nichts.
    Ich bin wie eine Motte zum Licht geflogen und dann ging das Licht aus, und das ist der einzige Grund, aus dem ich noch am Leben bin. Und deswegen bin ich jetzt still. Ich trinke und höre der Aufgeregtheit der anderen zu, den weltpolitischen Erwägungen der aufrechten Linken Liz und John, die die Bilder aus dem Fernsehen bereits einordnen, wegstecken, sortieren. Das wird jetzt alles zu einem summenden Hintergrundteppich, vor dem ich die Leere in meinem Kopf genieße. Ich fühle mich wie auf der Hollywoodschaukel bei meinen Eltern, mein Vater steht am Grill, meine Mutter erzählt mir irgendeine Geschichte von den Gartennachbarn, ich habe ein Bier in der Hand und im Hintergrund läuft ein Rasenmäher.
    Ich steige auf Wein um, das ist die einzige Entscheidung, die ich im Moment treffen kann.
     
     
     
    W ir verabschieden uns von Liz' Familie, als hätten wir nicht zwei Stunden, sondern zwei Wochen miteinander verbracht. Alle bringen uns zur Tür, alle umarmen uns, wünschen uns alles Gute. Bevor die Tür zuschlägt, ruft Liz mir zu, ich könne ja morgen Vormittag mit Mascha bei ihr vorbeikommen. Der Kindergarten werde ja nun sicher doch noch nicht aufmachen.
    Dann stehen Alex und ich auf der Straße. Alex hat Mascha auf dem Arm, ich halte mich an ihm fest. Langsam gehen wir zu unserem Haus zurück. Ich genieße die Stille. Es wurde so viel geredet in der letzten Stunde, Alex hat seine Geschichte erzählt, ich habe neben Liz und John und Liz' Mutter gestanden und zugehört und Fragen gestellt. Ich konnte nicht weinen, ihm nicht sagen, was ich für Angst um ihn hatte, wie wütend ich war, wie ich unseren Beruf verflucht habe. Er war wieder da, aber er war immer noch weit weg, stand unter dem kleinen Fernseher wie der Gast einer Talkshow, ein Augenzeuge, der von seinen Erlebnissen berichtet, noch unter Schock, bei sich.
    Alex sagt, er habe im Keller beschlossen, den Beruf aufzugeben, nichts mehr zu schreiben, nicht mehr wegzulaufen von uns. Aber wie er das sagt, »im Keller«, klingt es bereits wie ein Vorsatz aus der Vergangenheit, so wie damals, als er sich vorgenommen hat, mit dem Rauchen aufzuhören und bei der nächsten Party die Versuchung dann doch zu groß war. Er ist Reporter, er jagt nach Geschichten, das ist Teil von ihm, von seiner Persönlichkeit, und ich kann mir nicht vorstellen, was für ein Mensch er ohne seinen Beruf wäre.
    »Nur noch die eine Geschichte«, sagt er, »dann höre
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