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Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York

Titel: Wo Warst Du - Ein Septembertag in New York
Autoren: Anja Reich
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ich auf.«
    Ich sehe ihn an, ich glaube ihm kein Wort. Es hat mit seinem Blick zu tun, aber vielleicht auch mit der Fahne, die an Mikes Haus hängt, eine gigantische amerikanische Fahne, mindestens so groß wie die DDR-Fahne, die jedes Jahr zum 1. Mai an meinem Haus in Berlin-Lichtenberg flatterte. Die Fahne ist zu groß für Mikes kleines Haus, zu groß für unsere schmale Straße mit den beiden Kirchen, der roten Backsteinschule und den altmodischen Feuerhydranten.
    »Mikes Fahne«, sagt Alex und lächelt. So guckt er, wenn er Details im Alltag entdeckt und abspeichert, um sie später in einer Kolumne oder in einer Geschichte zu verwenden.
    Er geht vor mir die Treppe hoch, und als wir auf dem Absatz neben dem Blumenkübel stehen, sehe ich eine andere Fahne, die vorhin auch noch nicht da war. Sie ist viel kleiner und unscheinbarer als Mikes und sie hängt nicht an der Fassade, sondern steckt hinter Phyllis' Fenster.
    »Guck mal, Phyllis hat auch eine Fahne«, sage ich Alex und erzähle ihm von unserer Begegnung zwischen den Mülltonnen. Alex hört nicht richtig zu, was an Mascha liegt, die sich an seinen Hals klammert und sich weigert, alleine die Treppe zu ihrem Zimmer hochzugehen.
    »Ich mach das schon«, sage ich, nehme Alex unsere müde Tochter ab, sie ist völlig zerschlagen, aber immer noch energisch genug, das gleiche abendliche Prozedere einzufordern wie jeden Tag. Die Geschichte von den Zahnteufeln beim Zähneputzen, die Gutenachtgeschichte im Bett, drei Gutenachtlieder: »Schlaf, Kindlein, schlaf«, »Der Mond ist aufgegangen«, »Lalelu, nur der Mann im Mond schaut zu«. Die Nachtlichtlampen an der Wand – der Mond und der Stern – tauchen ihren Raum in ein warmes Licht. Ich sitze neben Mascha, meiner kleinen treuen Begleiterin durch den Tag, und halte ihre Hand so lange fest, bis ihr die Augen zufallen. Ich frage mich, was dieser Tag wohl für ihr Leben bedeuten wird, was sie mitbekommen hat, was ihr in Erinnerung bleibt von dem großen Feuer in Manhattan.
     
     
     
    I
rgendwann führt mich Anja zurück auf die Straße wie ein Kind. Die Tür zu Gails Haus fällt zu, das Hintergrundsummen verstummt, Mascha ist müde, ich nehme sie auf den Arm. Anja umarmt mich, und ich sage ihr, dass ich mich leer fühle und aufhören werde. Dass ich nicht mehr wegrennen möchte, sondern hierbleibe. Sie nickt und lächelt. Ich weiß nicht, ob sie mir glaubt, ich weiß nicht, ob sie sich so ein Leben mit mir vorstellen kann, ob sie sich so ein Leben wünscht. Vor ein paar Wochen habe ich in Miami den Film
Any Given Sunday
gesehen, in dem ein alternder
Quarterback
seinen Sport aufgeben will, weil er müde ist, weil die Jungen ihn jagen und alles wehtut. Seine Frau hört sich seine Pläne geduldig an, dann sagt sie kühl, er solle sich zusammenreißen und weitermachen. Vielleicht steckt das in jeder Frau. Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sich irgendetwas ändern muss. Wir steigen die Treppen zu unserem Haus hinauf, wir machen erstmal weiter. Anja bringt Mascha ins Bett, ich höre das Wasser rauschen und die Türen klappen, das Schnattern, das Warnen und das Klagen. Ich nehme das Telefon und rufe Ferdinand an.
    Debbie ist dran, sie sagt nur kurz, dass sie sich freut, dass ich wieder da bin. Dann gibt sie den Hörer gleich an Ferdi weiter. Debbie weiß immer, was gemacht werden muss. Sie hat diese gerade Art. Wenn wir bei ihr zu Gast sind, erzählt sie schon in der Tür, dass ihr Essen grauenvoll ist. Sie ist keine gute Köchin, aber es ist ihr auch nicht so wichtig. Ferdi ist höflich, aber einsilbig. Ich stelle mir vor, wie Debbie ihn vom Fernseher oder vom
Game Cube
weggeholt hat, wo sein Freund Derek jetzt auf ihn wartet.
    »Oh, Dad, hi. Gut, dass du zurück bist. Wie geht's?«, sagt mein Sohn.
    Die Höflichkeit hat er hier gelernt, glaube ich. Er grüßt die Nachbarn, fragt, wie es ihnen geht, fragt, ob er zu laut ist, ob er helfen kann. Die Deutschen finden diese Freundlichkeit im amerikanischen Alltag ja oft oberflächlich. Ich finde sie sehr angenehm. Ich mag es, wenn mich die Kassiererin im Supermarkt
Darling
nennt. Es hellt meinen Tag auf. Ich mag es, einen höflichen Sohn zu haben, der die Nachbarn grüßt. In diesem Moment aber verstehe ich, wie die Höflichkeit mich von ihm trennt. Er tarnt damit seine Ungeduld und vielleicht auch seine Gefühle. Er will weiterspielen und auf keinen Fall will er vor seinem Freund Derek mit mir über die Türme reden, die wirklichen Türme und die Türme auf seinen
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