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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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der Stelle, ohne zu wissen, warum, und ohne Zeit zu haben, Ihre Artgenossen zu warnen. Auf längere Sicht führt das zum Aussterben der reptilienfressenden Vögel. Dasselbe im dritten Fall: Sie fressen die Schlange, und da nichts passiert, schließen Sie daraus, dass die Art ungefährlich ist. Das hat dieselbe Folge, denn nachdem diese Tiere irgendwann giftig werden, wird Ihre Vogelart ebenso ausgelöscht. Werden Sie jedoch von einer Schlange der zweiten Art gebissen, die zwar giftig ist, aber nicht tödlich, haben Sie eine gewisse Zeit lang zu leiden, doch dann geben Sie die Information eilig weiter: Eine rot-schwarz gestreifte Schlange fressen zu wollen ist sehr gefährlich, besser, man geht allem aus dem Weg, das entfernt danach aussieht. Diese Art also war die erste. Notwendigerweise. Von den Vögeln, ihren potentiellen Fressfeinden, verschmäht, hat unsere Korallenschlange genügend Zeit und Gelegenheit, weitere für die eigene Futterjagd effektivere Formen auszuprägen, bis hin zum Rolls-Royce der Gattung, dessen Biss niemand überlebt. Die dritte Art ist mit Sicherheit die schlaueste, denn ihre Gattung hat mit den beiden anderen überhaupt nichts zu tun, schmückt sich aber mit der Zeichnung der Korallenschlange, um bei geringem Aufwand denselben Schutz zu genießen … Allerdings«, so hatte er nicht ohne Ironie hinzugefügt, »stellt die natürliche Immunität gegen Schlangengift bei manchen Reptilienfressern, darunter diverse Vogelarten, ein höchst interessantes Problem dar, ein bis heute ungelöstes …«
    Elaine fragte sich, welche der Arten wohl vor ihren Füßen dahinglitt. Als die Schlange verschwunden war, sah sie wieder den Schamanen, der jenes merkwürdige Päckchen vor ihr hinlegte, kurz bevor das Entsetzen ihren Blick getrübt hatte. Wie absichtslos ging sie darauf zu, faltete dann mit den Fingerspitzen die Umhüllung aus Pflanzenfasern auseinander. Trotz der grünlichen Beulen in dem alten Ledereinband erkannte sie sofort, dass es sich um ein Buch handelte, einen Folio-Band, den sie jetzt rasch aus der zerfallenden Verpackung befreite und auf der Titelseite aufschlug, ganz unwillkürlich, und da hatte sie die Antwort:
Athanasii Kircheri è Soc. Jesu Arca Noë, in tres libros digesta …
    Die
Arche Noah
! Der Schamane hatte eines von Eléazards Lieblingsbüchern besessen … Sie staunte, weniger über ein solches Zusammentreffen von Zufällen, als darüber, dass ihr Mann unvermittelt aus einem toten Winkel des Chaos auftauchte, wie um ihr von ferne beizustehen, ihr zu helfen, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Dies Buch beschwor seine Gegenwart bei ihr, und auf eine ebenso mysteriöse Weise rechtfertigte es seine Vernarrtheit in Athanasius Kircher. Der Band verströmte eine verdächtige Magie, eine maßlose Spannung. Elaine durchblätterte die feuchten, mit roten Flecken übersäten Seiten. Nach der
Arca Noë
waren sämtliche Illustrationen aus der
Ars lucis et umbrae
und des
Mundus subterraneus
mit eingebunden; handgeschriebene Notizen auf einigen Blankoseiten bildeten ein rudimentäres Wörterbuch, eine Wörterliste eher, wie ein Missionar sie anlegen mochte, der auf einen unbekannten Volksstamm trifft. Erstens stellte diese Liste die Sprache der Eingeborenen lateinischen Begriffen gegenüber, zweitens war sie mit der Feder geschrieben; dieses beides und die Kalligraphie deuteten darauf hin, dass Kirchers Werk einem der ersten Europäer gehört hatte, die ausgezogen waren, die Neue Welt zu erkunden. Diese Indizien, dazu die Umstände ihrer eigenen Begegnung mit den Indios, beides ergab für Elaine eine ganz plausible Geschichte. Ein Mann, wohl ein Mann der Kirche, dringt in den Urwald ein, mit dem schmalen Gepäck des zukünftigen Märtyrers: eine Bibel, ein paar Glasperlen und Spiegel, dazu in diesem Fall ein Exemplar jener überreich illustrierten Handbücher, mit denen Kircher besser als jemals ein anderer die Überlegenheit des christlichen Glaubens bewies. Manche Jesuiten, so hatte ihr Eléazard berichtet, setzten sich damals einfach mitten in den Dschungel und spielten dort Flöte oder gar Geige, bis die Indios auftauchten. Als ein neuzeitlicher Orpheus erjagte so einer die Seelen, mal mit Gebeten, mal mit Musik … Und wenn einer dieser Patres durchhielt und überlebte, ließ er sich bei dem Stamm nieder und begann die Sprache zu lernen. Pflanzen, Bäume, Tiere, man musste mit dem Finger auf die Bilder der irdischen Geschöpfe in Kirchers Buch zeigen und eines nach dem anderen
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