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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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den es je gab, zu dieser Wiege, um die herum die Engel des Hauses wachen. Durch die Adern der Welt fließt eine Intelligenz, welche die gesamte Masse bewegt & sie im großen Ganzen aufgehen lässt: Schon erahne ich das unauslöschliche Licht. Nur Mut, meine Seele, das Ziel ist nah. Freude, Freude, Freude!«
    In diesem Augenblick erschien unvermittelt Pater Ampringer im Zimmer; & da ich ein wenig abseits der Tür stand, konnte ich ihn nicht warnen. Er erblickte meinen Meister, rief Gott & alle Heiligen an & stürzte auf ihn zu … Der Bann war gebrochen: Kircher wich zurück & begann zu wimmern, während Pater Ampringer versuchte, ihm hochzuhelfen, indem er mich zu Hilfe rief. Ich tat so, als käme ich gerade erst hinzu.
    »Welch ein Unglück, mein Gott, welch ein Unglück!«, rief Pater Ampringer immer wieder. »Kommt, Pater Schott, helft mir, ihn zu waschen … All diese Federn, Gott bewahre! Wie ist er nur wieder darauf verfallen?! Oh, das Alter ist grausam … Unser lieber Bruder ist zum Kind geworden; wir werden besser über ihn wachen müssen, als wir es bisher getan …«
    So wagte er laut zu sagen, was insgeheim seit Wochen im Collegium gemunkelt wurde; doch weigerte ich mich, diesen Umstand anzuerkennen, zumal nach der Szene, deren Zeuge ich soeben geworden. Kircher konnte weiterhin sprechen! Seine Intelligenz war unversehrt, sosehr er sich auch Mühe gab, das Gegenteil als wahr erscheinen zu lassen …
    Wir benötigten mehrere Stunden, bis mein Meister wieder leidlich vorzeigbar war, doch um nichts in der Welt hätte er zugelassen, dass wir sein Haar oder seine Nägel schnitten, so dass man ihn trotz unserer Bemühungen immer noch kaum wiedererkannte. Sobald wir wieder allein waren, schrieb ich diese Worte auf ein Stück Papier: »Ich halte zu Euch, mein hochverehrter Vater, & werde Euer Geheimnis hüten. Doch um der Liebe Gottes willen, sprecht! Sprecht wieder mit mir, wie Ihr es eben mit diesem Insekt getan …« Nachdem er es gelesen hatte, zerknüllte Kircher das Papier mit zitternden Händen & betrachtete mich voll Traurigkeit.
    »Kann nicht sagen … Caspar … kann nicht sagen …«
    Er blickte so verzweifelt drein wie jemand, der sich ehrlich, doch ohne Erfolg bemüht hat, einen Wunsch zu erfüllen. Dass er hernach wieder mit seinem Floh zu spielen begann, ohne mich weiter zu beachten, stürzte mich in eine Verzweiflung, die auch das Gebet lange nicht lindern konnte.
    Noch am Abend jenes verhängnisvollen 18 . Septembers vertraute ich Pater Ramón an, was ich an meinem Meister beobachtet hatte, & berichtete ihm meine Hoffnungen bezüglich seines Zustandes.
    »Ich wollte, ich würde mich irren«, antwortete er mir behutsam, »doch muss ich Eure Hoffnungen leider zerstören, sie sind nicht begründet. Solcherlei Remissionen habe ich bei anderen Kranken beobachten können, sie sind trügerisch und weit davon entfernt, auf eine eventuelle Heilung hinzudeuten. Im Gegenteil, sie zeigen sogar eine Verschlimmerung an & sind gewissermaßen der Schwanengesang des Kranken. Das Ende ist nah, Pater. Gewöhnt Euch an diesen Gedanken, Eure Gebete für die Seele unseres teuren Freundes werden nur noch wirksamer sein …«
    Die Ereignisse sollten Pater Ramón recht geben. Bis auf jene absurden oder sinnlosen Laute, die mich bis zum Ende betrübten, gab Kircher kein einziges Wort mehr von sich. Nun mag die Stimme, wie Aristoteles meint, ein entbehrlicher Luxus sein, ohne den man leben kann, doch wie fürchterlich klang die meines Meisters in jenen letzten Monaten! Er war nun ein verkommener Tattergreis geworden, von seiner Kleidung umschlottert; grässlich abgemagert, das Haar in alle Richtungen stehend, verbrachte er seine Tage damit, die Heere von Läusen abzuzählen, die seine Hosen bewohnten. Freilich war er immer noch liebenswürdig, doch stieß er die Menschen durch den enormen Dreck ab, der ihn umgab wie ein zweiter Satz Kleidungsstücke. Ich liebte in darum nicht weniger, wusste ich doch, dass er für seine Handlungen nicht mehr verantwortlich war, doch kostete es mich mehr Kraft, als ich sagen kann, Tag um Tag den Verfall seines Körpers & seines Geistes mit ansehen zu müssen.
    Und schneller, als ich es gedacht hatte, kam der Tag, da mein Meister sich zu Bett begab, um nicht wieder aufzustehen. Am elften November jenes selben Jahres 1680 ward er so schwach, dass seine Beine ihn nicht mehr zu tragen vermochten. Da seine Gedärme geschrumpft waren & ihre Arbeit nicht mehr tun konnten,
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