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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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mit unendlicher Geduld beim Namen nennen. Später dann konnte man sich übernatürlichen Erscheinungen zuwenden, die Mythologie der Wilden ausrotten und sich an ihre Bekehrung machen. Ein paar Taschenspielertricks, sehr viel Diplomatie, und der Pater machte aus einem Schamanen – der hochzufrieden war, so billig davonzukommen – seinen Verbündeten und Schüler. Der Missionar sprach die Sprache seiner Schützlinge oder vermeinte sie zu sprechen, es gelang ihm, ein paar Kinder zu taufen und ihnen einige Kirchenlieder beizubringen; der Schamane seinerseits beherrschte ganze Tiraden auf Latein und plapperte die Sprache seines Lehrers auf eine Weise nach, die zu den schönsten Hoffnungen Anlass bot … Und dann wird dem Leben und Streben des Paters durch die Entbehrungen, die Malaria oder eine blödsinnige Rachegeschichte ein Ende bereitet. Der Stamm kehrt zu seinem primitiven Leben zurück. Im Glanz neuer Macht schnappt der Schamane sich die Bücher und folgt dem Pfad, auf dem sein fremdländischer Amtsbruder so viel Erfolg hatte. Unermüdlich wiederholt er die so mühevoll erlernten lateinischen Phrasen, erklärt allen anderen, dass ein Prophet unter ihnen gelebt habe, ein weiterer aber noch kommen werde, dass er einen Bart tragen werde wie Kircher auf der Abbildung vorn im Buch, und dass jener sie dann in irgendein Paradies geleiten werde. Der Schamane stirbt seinerseits, nachdem er die Gesamtheit seines Wissens an seinen Sohn weitergegeben hat, und immer so fort, vierhundert Jahre lang. Bei jeder Weitergabe der ursprünglichen Botschaft geht etwas verloren, kommt etwas anderes hinzu, so dass diese Leute hier irgendwann Kircher selbst zu verehren begonnen hatten:
Qüiririche
, so lautete die Übersetzung seines Namens in der Wörterliste … Als sie Detlef erblickten, erkannten die Indios in ihm ohne weiteres den verheißenen Messias aus den alten Mythen. Sogar die Fossilien hatten in dieser unglaublichen Verwechslungsgeschichte ihre eigene Rolle gespielt; etliche davon waren in dem alten Buch abgebildet, die Neuankömmlinge trugen welche in ihrem Gepäck bei sich, auf dem Berg war eine große Menge davon zu finden … Allerlei Zeichen, die der Schamane irgendwie in seinem Kopf kombiniert hatte, um aus ihnen das bevorstehende Ende der Zeiten herauszulesen …
    Trotz ihrer Ungeheuerlichkeit war diese Erklärung die einzige, die ein wenig Logik in das schreckliche Geschehen brachte. Ein Missverständnis, ein grauenhaftes vielhundertjähriges Missverständnis, das ein ganzes Volk das Leben gekostet hatte … Es war Elaine fürchterlich, dass sie diese plötzliche Erkenntnis nicht mit jemandem teilen konnte. Die Bibel schien verlorengegangen, doch das Buch auf ihrem Schoß – die
aracanóa
des Schamanen! – hatte für viele Generationen ein Heiligtum dargestellt, bis es ihre Nachfahren in den Abgrund gestürzt hatte … Eléazard und Moéma wären hingerissen gewesen. Der arme Detlef übrigens auch, doch hätte er sich wohl weniger für diese lebenden Fossilien interessiert als für diejenigen, die der alte Mann vom Gipfel mitgebracht hatte.
    Wieder trat Elaine aus sich heraus, um irgendwann zu bemerken, dass sie die höchste Stelle des Inselbergs erklommen hatte. Das Buch hatte sie nicht mehr dabei; es musste irgendwo zurückgeblieben sein. Trotz ihrer Überraschung und der Angst vor jenen schwarzen Löchern, in denen ihr Geist immer öfter verschwand, genoss sie es, an die freie Luft gelangt zu sein. Der Felsgrat ringsum war eine einzige Geröllhalde aus versteinerten Abdrücken. Tribrachidium? Archaeocyatha? Parvancorina? Sie zögerte, die Steine zu benennen, die sich wie in einer Kaskade aus einer erstarrten Quelle ergossen: einem auf der Welt einzigartigen Tiegel von Algen und Wirbellosen, ein Fenster in jene erste Zeit, da die Erde noch nichts war als ein einziger tragischer, fast unbewohnter Ozean. Vor sechshundert Millionen Jahren hatte das Meer auf dieser Anhöhe das Wunder des Lebens geschaffen. Eine ununterbrochene Verbindung bestand zwischen ihr, der Forscherin, und diesen blinden, wehrlosen Geschöpfen, knüpfte sie an ihr Schicksal, dasjenige urweltlicher Glyphen. Im Auge des Zyklons, im Herzen des Wirbels, der die schwarzen Wasser des Dschungels unter ihr aufwühlte, wusste Elaine auf einmal, dass sie endlich Ruhe finden würde. Eléazard, Moéma … sie war wieder bei ihnen, jetzt und hier, nach dieser langen Reise. Ein Sonnenspiegel, der den Taumel des Universums reflektiert, erkannte sie
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