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Wo Tiger zu Hause sind

Wo Tiger zu Hause sind

Titel: Wo Tiger zu Hause sind
Autoren: Jean-Marie Blas de Roblès
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Lianen und Laub, das die Stadt zurückeroberte, ohne dass es jemand aufzuhalten versuchte. Hier vom ersten Stock aus schien es Eléazard, als blicke er direkt ins Herz des Organischen, in der Art eines Chirurgen, der neugierig in eine sich geöffnet darbietetende Leibeshöhle blickt. Als er beschlossen hatte, São Luís zu verlassen und ein Haus in Alcântara zu kaufen, sah er sich vor die Qual der Wahl gestellt. Diese Barockstadt, ein Prunkstück der Architektur des 18 . Jahrhunderts in Brasilien, war dem Verfall preisgegeben. Seit dem Sturz des Marquês de Pombal war sie von der Geschichte vergessen, wurde von Wald, Insekten und Feuchtigkeit aufgezehrt und nur noch von einer Handvoll Fischer bewohnt, die zu arm waren, um woanders zu leben als in halb eingestürzten Unterständen oder in Hütten aus Wellblech, Lehm und leeren Kanistern. Dann und wann einmal tauchte ein Bauer auf, trat ängstlich blinzelnd aus dem Dämmer des Urwalds und verkaufte seine Papayas oder Mangos an die Zwischenhändler, die sie dann nach São Luís verfrachteten. Hier hatte Eléazard dieses riesige, verkommene Haus gekauft, einen jener
Sobrados
, die einst die Schönheit der Stadt ausgemacht hatten. Der Preis erschien ihm lächerlich; für die meisten Brasilianer bedeutete er immer noch eine erhebliche Summe. Die Fassade ging frontal auf die Praça do Pelourinho hinaus, zu deren linker Seite die aufgelassene Kirche São Matias stand, zur rechten die ebenso Wind und Wetter preisgegebene Casa de Câmara e Cadeia, mit anderen Worten: Rathaus und Gefängnis. Mitten auf dem Platz, zwischen diesen Ruinen, von denen nur noch Wände und Dach übrig waren, erhob sich nach wie vor der
Pelourinho
, eine reichverzierte Steinsäule, an der einst die widerspenstigen Sklaven ausgepeitscht wurden; die tragische Verkörperung weltlicher und religiöser Unterdrückung, der Verblendung, aus der heraus manche Menschen guten Gewissens Tausende ihresgleichen massakriert hatten. Diese Säule war das einzige unversehrte Architekturdenkmal der Stadt. Und die hier lebenden
Caboclos
mochten zwar ihre Schweine in aller Freiheit in den Ruinen von Kirche und Rathaus herumwühlen lassen, doch nie hätten sie geduldet, dass diese Säule auch nur im Geringsten beschädigt würde, dieses Symbol von vielhundertjährigem Leiden, von Entrechtung und Dummheit. Denn an diesen drei so eng verbundenen Pfeilern der menschlichen Natur hatte sich rein gar nichts geändert, das würde auch nie geschehen, und so sahen die Bewohner der Stadt in der Säule ein Mahnmal ihrer Armut und ihres Elends.
    Elaine, Eléazards Frau, hatte diesen Ort, wo allen Dingen Stigmen gleich die Zeichen der Fäulnis, des Verfalls anhingen, nie ertragen können, und diese allergische Reaktion hatte wahrscheinlich nicht wenig zu ihrer Trennung beigetragen. Aber das war nur ein Detail unter vielen anderen Mängeln, die sie ihm eines Abends im letzten September unversehens an den Kopf geworfen hatte. Während ihrer gesamten Ansprache hatte er nur ein Bild vor Augen, jenes Klischee von einem Haus, das, von Termiten zerfressen, jäh zusammenfällt, ohne das geringste Vorzeichen für die nahende Katastrophe. Er war gar nicht auf den Gedanken gekommen, sich zu verteidigen, so wie es wohl den meisten geht, die von der Faust des Unheils überrascht werden: Wie sich auch noch rechtfertigen angesichts eines Erdbebens oder einer Bombenexplosion? Als seine so unversehens zu einer Fremden gewordene Frau die Scheidung verlangte, hatte Eléazard sich gefügt, hatte alles unterschrieben, was man ihm hinlegte, hatte sämtliche Begehrlichkeiten der Anwälte akzeptiert, wehrlos wie einer, der sich von einem Flüchtlingscamp ins andere schaffen lässt. Ihre Tochter Moéma – manche Namen kann es einfach nur in Brasilien geben – hatte kein Problem dargestellt; sie war volljährig und führte ihr eigenes Leben – wenn man denn ihre Art, Tag um Tag den Notwendigkeiten des Daseins auszuweichen, »ein Leben führen« nennen wollte.
    Eléazard hatte beschossen, in Alcântara zu bleiben, und erst seit kurzer Zeit – ein halbes Jahr war seit Elaines Umzug nach Brasilia vergangen – begann er die Trümmer seiner Liebe zu besichtigen; eher als etwas, das noch zu retten wäre, suchte er die Gründe für ein derartiges Debakel.
    Recht bedacht, war Werners Angebot haargenau passend gekommen. Diese Arbeit an Caspar Schotts Manuskript bewahrte Eléazard gewissermaßen vorm Durchdrehen, es zwang ihn zu therapeutisch wirkender
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