Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt
Autoren: Deborah Harkness
Vom Netzwerk:
und angelte es vorsichtig aus dem Köcher.
    Hubbard las den Text auf dem Zettel, legte die Stirn in Falten und schüttelte dann den Kopf. »Armer Christopher. Er war immer schon eines von Gottes verlorenen Kindern.«
    »Master Marlowe kommt nicht zurück?« Annie unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen. Sie hatte den Stückeschreiber nie gemocht und nach den grässlichen Ereignissen auf dem Turnierplatz im Palast von Greenwich nie wieder achten können. Seit ihre Herrin und ihr Herr abgereist waren, ohne dass jemand gewusst hätte, wohin, war Marlowe erst der Melancholie, dann der nachtschwarzen Verzweiflung anheimgefallen. An manchen Tagen war Annie überzeugt, dass ihn die Schwärze irgendwann verschlucken würde. Sie wollte alles tun, damit sie nicht mit ihm zusammen verschluckt wurde.
    »Nein, Annie. Gott sagt mir, dass Master Marlowe aus dieser Welt in die nächste hinübergegangen ist. Ich bete für ihn, dass er dort den Frieden finden möge, der ihm in diesem Leben verwehrt blieb.« Hubbard sah das Mädchen nachdenklich an. Annie war zu einer hübschen jungen Frau herangewachsen. Vielleicht konnte sie Will Shakespeare von seiner Liebe zu der Frau dieses anderen Mannes kurieren. »Aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Mistress Roydon bat mich, dich wie eines meiner eigenen Kinder zu behandeln. Ich sorge für alle meine Kinder, und du wirst einen neuen Herrn bekommen.«
    »Wen, Vater?« Sie würde jede Stellung annehmen müssen, die Hubbard ihr anbot. Mistress Roydon hatte ihr damals vorgerechnet, wie viel Geld sie brauchen würde, um sich in Islington als selbständige Näherin niederlassen zu können. Um eine solche Summe zusammenzubekommen, würde sie lange knausern müssen.
    »Master Shakespeare. Jetzt, wo du lesen und schreiben kannst, bist du eine Frau von Wert, Annie. Du kannst ihm bei seiner Arbeit behilflich sein.« Hubbards Gedanken kreisten um den Zettel in seiner Hand. Es lockte ihn, die Statue zusammen mit jenem Paket aus Prag zu behalten, das man ihm über ein komplexes, von holländischen Vampiren gesponnenes Netzwerk aus Boten und Händlern zugestellt hatte.
    Hubbard wusste immer noch nicht, warum Edward Kelley ihm dieses merkwürdige Drachenbild geschickt hatte. Edward war eine dunkle, schlüpfrige Kreatur, und Hubbard hielt ihn für einen unmoralischen Geist, der weder vor offenem Ehebruch noch vor Diebstahl zurückschreckte. Normalerweise war es erbauend, das Blut eines neuen Kindes zu trinken, aber bei Kelley war das Ritual der Aufnahme in Hubbards Familie eine peinigende Erfahrung gewesen. Immerhin hatte Hubbard während der Zeremonie tief genug in Kelleys Seele geblickt, um zu erkennen, dass er ihn nicht in London haben wollte. Darum hatte er ihn stattdessen nach Mortlake geschickt. Postwendend hatte Dee aufgehört, ständig um Lehrstunden in Magie zu betteln.
    Aber Marlowe hatte diese Statue Annie zugedacht, und Hubbard würde nicht den letzten Wunsch eines Sterbenden missachten. Er reichte die Figur und den Zettel an Annie zurück. »Du musst sie deiner Tante, Mistress Norman, geben. Sie wird sie für dich aufbewahren. Das Papier soll dich immer an Master Marlowe erinnern.«
    »Ja, Vater Hubbard«, sagte Annie, obwohl sie das Objekt viel lieber verkauft und den Erlös in ihren Sparstrumpf gesteckt hätte.
    Annie verließ die Kirche, in der Andrew Hubbard residierte, und stapfte durch die Straßen zu Shakespeares Haus. Shakespeare war längst nicht so launisch wie Marlowe, und Mistress Roydon hatte immer nur respektvoll von ihm gesprochen, obwohl sich die Freunde des Masters oft über ihn lustig gemacht hatten.
    Sie lebte sich schnell im Haushalt des Stückeschreibers ein, und mit jedem verstreichenden Tag besserte sich ihre Laune. Als sie von Marlowes grausamem Tod erfuhren, nahm sie das als Bestätigung dafür, wie glücklich sie sich schätzen konnte, von ihm befreit zu sein. Master Shakespeare hingegen war so erschüttert, dass er abends zu viel trank und vor dem Theatermeister der Königin erscheinen musste. Doch zum Glück hatte Shakespeare sich erklären können, und jetzt ging alles wieder seinen normalen Gang.
    Gerade schrubbte Annie den Schmierfilm von den Fensterscheiben, damit ihr Herr mehr Licht zum Lesen hatte. Sie tunkte den Lappen ins Wasser, und dabei trudelte, getragen von einer leichten, durch das offene Fenster hereinwehenden Brise, eine kleine Papierlocke aus ihrer Schürzentasche.
    »Was ist das, Annie?«, fragte Shakespeare misstrauisch und deutete mit dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher