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Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Titel: Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
Autoren: Hannah Beitzer
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Erste vollständig in die Politik zu übertragen. Sie streamen Fraktionssitzungen live ins Internet (erste Erkenntnis: zuweilen ganz schön öde), experimentieren mit einem Antragstool namens «Liquid Feedback» herum (erste Erkenntnis: ganz schön kompliziert), twittern, was das Zeug hält (erste Erkenntnis: ganz schön geschwätzig), und kommunizieren hauptsächlich über Mailinglisten und Chatprogramme (erste Erkenntnis: ganz schön viele Trolle). Außerdem gehört Netzpolitik zu ihren Kernthemen – ein Politikfeld, das bei den alten Parteien eher unter «ferner liefen» vorkam, das aber unsere Lebenswirklichkeit unmittelbar berührt.
    Zudem bestimmten sie ihre Kandidaten in basisdemokratischen Prozessen, die in ihrer chaotischen Unberechenbarkeit den frühen Grünen in nichts nachstehen. Keine Ochsentouren, kein Sich-ewig-anbiedern-Müssen – so das Versprechen der Piraten, das viele lockte, die Parteiarbeit bisher eher öde gefunden hatten. Vor allem aber weigern sich die Piraten, sich in Raster einteilen zu lassen, die sie für überholt halten: rechts oder links zum Beispiel. Ihre konsequent postideologische Haltung geht so weit, dass gleich alle Inhalte verhandelbar werden: Die einzelnen Mitglieder sollen entscheiden, was ins Programm gehört. Und so treffen hier klassisch linke Positionen (bedingungsloses Grundeinkommen, Mindestlohn) auf radikal liberale innerparteiliche Strukturen (keine Quoten).
    «Willkür!», rufen seitdem beständig die Alten, «Inhaltsleere!» Dabei gefällt vielen von uns gerade, dass die Piraten gar nicht erst so tun, als könnte man alle Probleme der Welt in einer 20 -seitigen Wahlbroschüre lösen oder als hätten sie ein fertiges Weltbild, das auf alle Situationen des Lebens anwendbar ist. Allein für diese Aufrichtigkeit liefen ihnen die Mitglieder in Scharen zu – von 12 000  Piraten vor der Berlin-Wahl stieg die Zahl auf mehr als 30 000 . Und keineswegs nur junge: Der Altersschnitt der Piraten ist seit Herbst 2011 auf knapp 40  Jahre gestiegen. Damit sind sie allerdings immer noch die mit Abstand jüngste Partei. CDU , SPD und FDP kratzen alle beständig an der 60 , die Linke hat diese Altersmarke längst geknackt, und sogar der durchschnittliche Grüne war 2011 immerhin 47  Jahre alt.
    Die Älteren liefern seitdem ein seltsam anmutendes Schauspiel. Da engagieren sich endlich junge Leute, einfach so, ohne Geld oder Aussicht auf andauernden Erfolg – und wieder ist es nicht recht. Sie nörgeln beständig an allem herum, was die Piraten ausprobieren. Der Verdacht liegt nahe, dass die Alten zwar für sich immer Progressivität beanspruchen, aber dann doch irgendwie eingeschnappt sind, wenn die lieben Kleinen ihr eigenes Ding machen, selbst entscheiden, wie sie sich engagieren wollen.
    Nun ist es natürlich alles andere als sicher, dass die Piraten mit ihrer Idee von Politik richtigliegen, ja, es scheint sogar unklar, ob sie überhaupt eine Zukunft als Partei haben. Zwischendurch erreichten sie in Wahlprognosen zweistellige Ergebnisse, inzwischen sind sie wieder in einem realistischeren Bereich irgendwo zwischen drei und fünf Prozent angekommen. Richtig stark sind sie immer dort, wo es um konkrete Aktionen geht – zum Beispiel um den Protest gegen Netzsperren, der sie 2009 in Deutschland bekannt machte. Im politischen Alltag hingegen stellen sie sich meistens noch recht dämlich an – und werden auch aus ganz grundsätzlichen Überlegungen heraus von vielen Jungen misstrauisch beäugt. Kein Mensch, auch kein junger, will zum Beispiel eine Partei in der Regierung, die in Sachen Euro-Krise nur mit den Schultern zuckt oder erst mal umständlich alle Mitglieder befragt. Von den Personalquerelen der jungen Partei ganz zu schweigen.
    Doch gerade zu Beginn faszinierte die Methode der Piraten, nämlich das Angebot gleichberechtigter Mitbestimmung via Internet, noch genug, um die Partei in die Parlamente zu spülen. Sie schienen diejenigen zu sein, die nun zaghaft das Versprechen einer Demokratisierung durch das Netz einlösten. Oder es zumindest mal versuchten, den Mund aufmachten und sich einfach trauten, etwas Neues zu probieren. Und das Bedürfnis nach Mitbestimmung, nach frischem Wind und Aufbruch ist groß – selbst wenn die Piraten natürlich nicht gleich das gesamte politische System revolutionieren.
    Die Faszination vieler für die Piraten hat natürlich einerseits mit dem enormen Frust über die alten Parteien zu tun, die sich allzu oft nach der Wahl nicht mehr daran
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