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Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Titel: Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
Autoren: Hannah Beitzer
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spießig und visionslos. Nur weil unsere Visionen andere sind als ihre. Und vor allem ist es falsch, uns zu unterschätzen. Die Welt, so werden Soziologen nicht müde zu betonen, wird immer komplexer, immer schwerer zu verstehen. Anders als mit Pragmatismus und damit, die Dinge differenziert zu betrachten, kann man dieser Entwicklung nicht begegnen.
    Und doch muss sich auch bei uns noch einiges tun. Wenn wir ganz ehrlich sind: An dem Vorwurf, die Jungen seien zu zögerlich, zu sehr auf Sicherheit bedacht, ist etwas dran. Zwar wünschen sich viele eine andere Politik, doch der Umbruch soll nicht radikal sein, sondern moderat. Wir wollen einerseits eine neue Politik ausprobieren, fürchten uns aber anderseits davor, das bestehende System allzu sehr in Frage zu stellen. Zu fragil wirkt die Weltordnung, zu unsicher die Zukunft Europas. Und viel zu bedacht sind wir auf materielle Sicherheit. Zwar brauchen wir keine Reichtümer, wir wollen aber dennoch das Gefühl haben, dass wir nicht alles aufs Spiel setzen, sondern eine Restsicherheit behalten. Den Status, den wir uns erarbeitet haben, möchten wir zumindest nicht verlieren.
    Vielleicht ist das auch der Grund dafür, warum die Piratenpartei letztlich zwar viele Grundideen meiner Generation politisch umsetzt, von uns aber dennoch misstrauisch beäugt wird. Sicher, sie tritt für Mitbestimmung ein, für eine Politik, die den digitalen Wandel vorantreibt, anstatt ihn auszubremsen. Sie stellt Hierarchiehörigkeit in Frage, wirbt für mehr Transparenz, für eine Politik, die nicht abgehoben über den Menschen schwebt. Sie will Fragen stellen statt vorgestanzte Antworten geben. Gleichzeitig leben ihre Mitglieder jedoch ein Chaos, das vielen von uns zutiefst fremd ist. Die schrillen Töne, die politische Unbedachtheit, die ideologische Naivität – all das gehört zwar vermutlich dazu, wenn eine neue politische Bewegung entsteht. Doch uns, die wir unser Leben lang damit beschäftigt waren, Unsicherheit abzubauen, vernünftige Entscheidungen zu treffen, erscheint es wie absoluter Wahnsinn, wenn die wichtigsten Vertreter einer Partei hauptsächlich damit beschäftigt sind, sich gegenseitig aufs Übelste zu beschimpfen. Und obwohl wir den Humor vieler Piraten teilen oder zumindest verstehen, ist uns doch in der Politik Ernsthaftigkeit ziemlich wichtig.
    Eine Partei, die derart heftig hin- und herschwankt wie die Piraten, bietet am allerwenigsten die Sicherheit und Orientierung, die wir trotz allem Willen zur Veränderung brauchen. Wir, die wir in dem Glauben aufgewachsen sind, dass man bei vernünftiger Herangehensweise immer irgendwie eine Lösung für ein Problem findet, können es nicht fassen, dass sich ausgerechnet die Partei, die alles anders machen wollte, in endlosen Scharmützeln verliert, als wäre sie in Wahrheit nichts weiter als eine digitale Version der FDP .
    Unsere Eltern hatten damals, in der einbetonierten Bonner Republik, als Lebensläufe noch vorgezeichnet schienen und sich alle ordentlich langweilten, eine gewisse Lust am Chaos. Sie wollten bürgerliche Lebensentwürfe in ihre Einzelteile zerlegen, weil schließlich sonst nichts los war. Chaos war für sie die Antithese zum Leben ihrer Eltern, zu den Zuständen in der allzu braven, allzu spießigen, allzu bewegungslosen Bundesrepublik.
    Für uns hingegen ist vielleicht nicht unbedingt Chaos, aber doch ständige Veränderung der Normalzustand. Im Privaten: Jobwechsel, Stadtwechsel, Beziehungswechsel. Und im großen Ganzen: Wirtschaftskrise, Eurokrise, Globalisierung, Anpassung. Kein Wunder also, dass wir wenig scharf darauf sind, dem ganzen unübersichtlichen Wirrwarr um uns herum noch eine Partei hinzuzufügen, die sich in nichts anderem als Wirrwarr ergeht. Die schlecht einzuordnen ist, bei der man immer wieder Angst davor haben muss, dass ein durchgeknallter Vertreter den Holocaust relativiert, irgendwas von «Tittenbonus» daherschwafelt oder Details aus seinem Sexleben hemmungslos der Welt mitteilt.
    Was bleibt also von der Piratenpartei? Zum einen das: Sie hat Leute in die Politik integriert, die dort bisher allenfalls als abstrakte Masse vorkamen. Sie hat im Wahlkampf die einzige gehörlose Bundestagskandidatin, sie hatte einen politischen Geschäftsführer, der zumindest zeitweise auf staatliche Grundsicherung angewiesen war. Auf den Parteitagen diskutieren schnoddrige Links-Alternativos mit IT lern im Karohemd und Alt-Linke mit alleinerziehenden Müttern. In welcher Partei hat man schon eine solche
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