Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten

Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten

Titel: Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife - ein Tatsachen-Thriller über die Edelweißpiraten
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
gewesen. Vielleicht hätte er es nach Holland geschafft, an die Küste und dann über den Kanal oder die Nordsee nach England, Irland oder Norwegen. Grönland. Der Nordpol. Doch das waren nur Träume.
    Diese große Stadt könnte seine Chance sein, auch wenn er jetzt noch nicht wusste, wie das ohne Papiere und ohne Lebensmittelmarken gehen sollte.
    Paul lehnte am Brückengeländer und klopfte die nächste Zigarette über den Daumen der linken Hand aus der Packung. Die dritte heute. Im Rucksack trug er den Rest der Zigarettenstange. Sein Notgroschen. Das Streichholz kratzte auf der Reibefläche und entzündete sich. Über der orangenen Farbe der Flamme beobachtete er die Menschen, die mit Koffern in der Hand, beladenen Karren oder auf Fuhrwerken sitzend an ihm vorbeizogen. Von der rechten auf die linke Rheinseite.
    Da wollte er auch hin. Am Brückenkopf standen Posten der Feldgendarmerie. Mit ihrem breiten, silberfarbig glänzenden Brustschild sahen sie aus wie Kettenhunde. An denen musste er vorbei. Paul hatte keinen blassen Schimmer, wie er das anstellen sollte. Sie kontrollierten Ausweise. Nicht von jedem. Sie interessierten sich besonders für junge Männer im wehrfähigen Alter.

    DAS
    MÄDCHEN
    LÄCHELTE und fragte: »Darf ich?« Paul schätzte, dass sie so alt wie er selbst sein könnte. Sie war groß und schlank und ihre blauen Augen strahlten.
    Paul ließ sie eine Overstolz aus der Packung nehmen. Die Berührung ihrer Finger machte ihn nervös. Er räusperte sich. Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er in einer Art Starre. Sie stand vor ihm auf der Straße und hielt den Lenker eines Fahrrads. Ihre Fröhlichkeit passte nicht zu dem Trauerkranz, den sie sich über die Schulter gehängt hatte.
    »Entschuldige«, sagte sie. Ihr Blick glitt über das Brückengeländer zur Stadt hinüber. Sie hustete.
    »Ich habe heute kaum etwas gegessen und bin völlig fertig.« Sie tat einen weiteren, tiefen Zug und hustete wieder.
    »Puh«, sagte sie mit erstickender Stimme und einer Träne im Augenwinkel. »Das vertreibt den Hunger.«
    Paul spürte, wie er errötete, als sie ihn ansah. Betont lässig stützte er die Unterarme auf das Brückengeländer. Er räusperte sich und kniff, gegen die bleiche Sonne blinzelnd, die Augen zusammen. Sein rechter Unterarm rutschte vom Geländer. Er war auf dem besten Weg, sich lächerlich zu machen.
    »Was ist mit dir?«, fragte sie leise. Ihre Blicke trafen sich und Paul zuckte zusammen. Hatte sie ihn durchschaut und sein Herumlungern auf der Brücke als das gedeutet, was es war? Unschlüssigkeit. Und Angst vor den Kettenhunden.
    »Wo willst du hin?«, fragte sie.
    Pauls Blick ging zu den Wachen hinüber. Das Mädchen sah ihn an und nickte.
    »Wie heißt du?«, fragte sie. »Nur für den Fall, dass wir angehalten werden. Ich heiße Franziska. Aber alle nennen mich Franzi.«
    Paul versuchte ein Lächeln und schluckte.
    »Paul«, antwortete er.
    »Ich muss den Kranz abliefern. Hast du Zeit, Paul? Du siehst aus, als hättest du Zeit«, sagte sie. Ihr Blick ruhte auf seinem Gesicht.
    Sie hielt die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand. Der Ringfinger und der kleine Finger berührten den Handballen. Im Dreieck zwischen Nasenflügel, Ohrläppchen und Mundwinkel spielte ein Lächeln. Ein tiefes Lachgrübchen bildete sich. Alles geschah gleichzeitig. Paul fühlte sich fast schwindelig.
    »Ich muss diesen Kranz ausliefern«, wiederholte sie. »Mein Fahrrad ist kaputt.« Das mit dem Fahrrad war allerdings neu. Der Hinterreifen war platt und die Felge hatte sich verzogen. Das sah er erst jetzt. Er wollte »ja, ja« stottern, bekam aber keinen Ton heraus.
    »Du trägst es. Also komm. Du wirst sehen, es ist ganz einfach. Nichts ist blöder, als begraben zu werden, und der Kranz kommt nicht pünktlich.«
    Sie griff nach seiner Hand und drückte sie leicht. Paul gab sich einen Ruck. Was hatte er zu verlieren? Sein Magen zog sich zusammen und er schulterte das Fahrrad. Es war, als würde ihn die Anwesenheit des Mädchens für die Wache unsichtbar machen. Die Kettenhunde grinsten herüber. Franzi lächelte zurück und Paul hielt den Atem an, darauf gefasst, jeden Moment wegzurennen. Sie gingen einfach an ihnen vorbei. Jeder Schritt brachte ihn näher an die Stadt. Und plötzlich spürte er eine merkwürdige Mischung aus Ruhe und Heiterkeit.
    In den nächsten Minuten erfuhr Paul alles aus dem Leben dieses Mädchens, und dabei bewunderte er ihren leichten Gang, ihren schlanken Hals
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher