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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern
Autoren: Anne Gesthuysen
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durfte sie anfassen. Allerdings nannte sie ihn Joop und glaubte, er sei ihr Bruder. Ihre Familie war darüber entsetzt und traurig, doch trotz allem war es auch komisch, wie die Mutter dastand, auf Holländisch schimpfte und verzweifelt versuchte, sich aus den Umarmungen zu befreien, um endlich die Gummistiefel anzuziehen. Sie wollte eben angeln. Irgendwann kam Josef auf die Idee, sie auf die Wiese hinauszulassen. Er nahm ihre »Angelrute«, führte die Mutter an eine große Kuhtränke und ließ sie gewähren.
    Am nächsten Tag konnte sie sich an nichts erinnern. Sie war wach, sie erkannte ihre Familie und schüttelte ungläubig den Kopf, als Katty ihr davon erzählte, wie sie mit Josef in einem Kuhkübel geangelt hatte. Erst lachte ihre Mutter, dann ging die Erheiterung nahtlos in Schluchzen über. Sie hatte Angst und im Grunde wusste sie nicht, was sie mehr fürchtete: das Sterben oder das Verrücktwerden.
    Der Angeltag war Vorbote eines Leberkomas gewesen, in dassie wenige Wochen später fiel. Sie erwachte nur noch ein einziges Mal aus diesem Tiefschlaf und schrie dabei vor Schmerzen. Als Katty zu ihr ging, um ihre Stirn mit einem feuchten Tuch zu tupfen und ihr über den Kopf zu streicheln, tobte die Mutter. Mit letzter Kraft nahm sie Kattys Arm und schubste ihn weg. Katty war fast dreizehn. Sie wusste, dass es eine Reaktion auf die Schmerzen sein musste, aber dieser Moment blieb ihr für immer bitter in Erinnerung. Es war die letzte Geste ihrer Mutter, die letzte Berührung, und die besagte: Geh weg.
    Katty merkte, dass sie immer noch schlucken musste bei diesem Gedanken. Die Szene war mehr als zwanzig Jahre her und bis heute fragte sie sich, ob sie damals etwas falsch gemacht hatte und ob ihre Mutter sie wirklich genauso geliebt hatte wie die anderen Kinder.
    Christine Franken hatte nicht lange leiden müssen. In den Zwanzigerjahren, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, hatten viele Ärzte Heroin im Arzneischrank, auch der Dorfarzt. Nachdem seine Schafsläuse keine durchschlagende Wirkung gezeigt hatten, kam er mit einer Spritze. Die Gesichtszüge der Sterbenden entspannten sich, ihr Atem ging langsam und rasselnd. Das Schnarchen wurde immer schleppender, aber es gab keine Anzeichen von Agonie. Irgendwann atmete sie vielleicht noch einmal in der Minute, dann tat sie ihren letzten Atemzug. Man sah den Tod, bevor man ihn begreifen konnte. Das Leben wich aus ihrem Körper, die Farbe lief von oben aus ihr heraus, als hätte jemand an den Füßen einen Stöpsel gezogen. Die Familie hatte sich am Sterbebett versammelt. Keiner sagte etwas, alle blickten auf den Leichnam, der plötzlich nicht mehr im Mindesten an ihre Mutter erinnerte. Kattys Vater beugte sich nah über das Gesicht seiner Frau, um zu spüren, ob noch Luft aus ihrem Mund kam. Er drückte ihre Augen zu, küsste sie auf die Stirn und verließ den Raum. Die Kinder taten es ihm nach und folgten ihm ins Wohnzimmer.

    Kattys Vater hatte Schnaps auf den Tisch gestellt, für sich und die erwachsenen Kinder, für Katty gab es Milch. Es war inzwischen elf Uhr abends, und sie saßen schweigend da. Als Katty zu weinen anfing, nahm Paula sie in den Arm, bis sie plötzlich ein Geräusch vernahmen: Aus dem Zimmer, in dem der Leichnam ihrer Mutter lag, hörte man ein kräftiges, gleichmäßiges Schnarchen. Sie wurden allesamt bleich. War die Mutter etwa wieder lebendig? Oder gar nicht tot gewesen? War sie vielleicht nur scheintot gewesen?
    Katty gruselte sich bei dieser Vorstellung. Von der alten Tante Greta hatte man sich das erzählt. Sie war gestorben, in den Sarg gelegt worden und bei der Beerdigung wieder aufgewacht. Angeblich hatte sie die Erde auf den Sarg prasseln hören. Und dann hatte sie geschrien, völlig verzweifelt, bis die Sargträger, von Entsetzen gepeinigt, den Sarg wieder hochgeholt und geöffnet hatten. Tante Greta hatte wohl so furchtbar ausgesehen, dass man sie für eine Untote hielt. Ein echtes Gespenst. Der Pfarrer hatte Bibelverse gemurmelt, um den Leibhaftigen zu besänftigen, und währenddessen hatte es in der Trauergemeinde ein heilloses Durcheinander gegeben. Die arme Tante Greta sollte ihre Wiederauferstehung nicht lange überleben. Ein paar Tage später hatte ihr Herz endgültig versagt.
    Diese Geschichte hatte Katty verfolgt. Jeden Abend vor dem Einschlafen hatte sie Angst gehabt, man könnte sie für tot halten und vergraben. Deshalb hatte sie über Monate hinweg einen Brief mit ins Bett genommen, auf dem klipp und klar stand: »Ich bin
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