Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern
Autoren: Anne Gesthuysen
Vom Netzwerk:
nicht tot. Weckt mich. Und wenn ich nicht aufwache, stellt mich mindestens fünf Tage vor die Tür. Ich will erst beerdigt werden, wenn ich ganz bestimmt verstorben bin.«
    Aber an diesem Abend ging es nicht um irgendwelche Schauermärchen, nicht um irgendeine alte Tante Greta. Es ging um ihre Mutter. Hatten sie sie einfach aufgegeben, obwohl sie noch lebte? Als sie sich aus der Starre lösen konnten, liefen sie ins Nebenzimmer.
    Was sie da sahen, trieb ihnen die Tränen in die Augen. Einer der Jagdhunde hatte sich ins Zimmer geschlichen. Niemand hatte ihn beachtet, und so lag er nun neben dem geliebten Frauchen auf dem Rücken, hatte alle Viere in die Luft gestreckt und schnarchte laut. In diesem Moment ergossen sich Monate der Sorge, der Hoffnung, der Angst und Trauer in schallendes Gelächter. Sie hatten sich die Bäuche gehalten vor Lachen, dann war es wieder ein Weinen gewesen. Ihre Körper waren von den verschiedenen Emotionen durchgeschüttelt worden, bis Katty irgendwann in Paulas Armen eingeschlafen war.
    Dem Tod wohnte etwas Absurdes inne, so schien es Katty seitdem. Irgendetwas, das den Hinterbliebenen ein wehmütiges Lachen ließ. Wie sollte man sonst auch weiterleben. Katty versuchte, die Erinnerung an ihre Mutter abzuschütteln. Sie wollte sich auf Theodor konzentrieren und ging hinüber in sein Zimmer. Auf dem Schreibtisch stand eine gerahmte Fotografie, die kurz vor dem Krieg aufgenommen worden war. Katty streichelte sein Gesicht. Er hatte die schönen runden Augen seines Vaters, ein wenig pausbäckig war er immer noch, und er hatte einen übergroßen Mund, der das restliche Gesicht überstrahlte. Wenn er lachte, sprach oder aß, wenn sein Mund in Bewegung war, sah man nur noch diese riesigen lebenshungrigen Lippen. Waren die nun so fahl, wie die Lippen ihrer Mutter binnen Sekunden geworden waren?
    Katty stellte sich vor, wie Theodor dalag, bleich, nichts mehr von den roten Wangen eines Kindes. Mit diesem Bild kamen endlich die Tränen. Sie weinte, und der Schmerz in der Kehle fühlte sich richtig an.

Der 100. Geburtstag – Donnerstag
Endlich zu dritt
    »Mein Gott, seht ihr alt aus. Pöhöhö.« Paula lachte ihr ploppendes Lachen, während sie aus dem Taxi stieg, und amüsierte sich königlich über ihre kleine Unverschämtheit. Die war nämlich gleich doppelt komisch, dachte Katty. Erstens war ihre ältere Schwester selbst fast achtundneunzig Jahre alt, und zweitens war sie so gut wie blind.
    »Was hat sie gesagt?«, war Gertruds krächzende Stimme hinter ihr zu vernehmen. In dem dichten Kiesbett der Einfahrt rutschte Gertrud bei jedem Schritt weg und kam nicht so schnell hinterher, wie es ihr lieb gewesen wäre.
    »Sie findet, dass wir alt aussehen«, wiederholte Katty sehr laut, woraufhin Paula erneut losploppte. Gertrud reagierte nicht. Sie hatte vermutlich keine Lust, noch einmal nachzufragen, um einer lästigen Hörgerätediskussion keine neue Nahrung zu geben.
    Seit mindestens zehn Jahren bearbeitete Katty ihre Schwester, sie solle sich endlich so ein Ding besorgen, weil sie keine Lust hatte, ständig zu schreien. »Jetzt bin ich schon so alt, da fange ich mit dem Unsinn auch nicht mehr an«, bekam sie stets zur Antwort.
    Paula konnte wie immer nicht aufhören mit der Neckerei.
    »Tja, Katty, da hast du dir was eingebrockt mit deinenSchwestern. Die eine blind, die andere taub, da lass uns heute Abend mal schön Skat kloppen.«
    Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Paula ihr Portemonnaie aus der Handtasche hervorgekramt hatte und es dem Taxifahrer reichte.
    »Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, junger Mann. Wenn ich kein Geld mehr habe, kann es mir meine Schwester wenigstens nicht aus der Tasche ziehen.«
    »Ich habe dich sowieso nur zum Spülen eingeladen«, gab Katty schelmisch zurück. Mit Schwung ergriff sie Paulas Koffer und marschierte voran. Sie war überglücklich, dass Paula da war. Ihre Schwester war ein Ausbund an guter Laune, der sich niemand entziehen konnte. Nicht einmal Gertrud. Paula würde Kattys Verbündete sein bei der heiklen Mission, die vor ihr lag.
    Für gewöhnlich wohnte Paula in Theodors ehemaligem Zimmer, wenn sie auf dem Tellemannshof zu Besuch war. Das Kinderzimmer, wie es bis heute genannt wurde, war ihr Lieblingszimmer, weil es sehr weit vom Wohnzimmer entfernt und dadurch schön ruhig war. Es gab in dem alten Bauernhaus viele Räume, und in den Siebzigerjahren hatte Katty alle Zimmer renovieren lassen, um auf dem Hof eine kleine Pension zu betreiben. Sie war meist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher