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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern
Autoren: Anne Gesthuysen
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Filtertüte. Vermutlich würde Katty Paula eine völlig übertriebene Version dieses kleinen Missgeschicks neulich erzählen. Es war doch im Grunde gar nichts passiert. Eine lächerliche Kleinigkeit.
    Sie stellte die Kaffeemaschine an und wartete einen Moment, bis sie das vertraute Brodeln hörte, dann verließ sie die Küche und ging die wenigen Meter bis in das Schlafzimmer, das Katty für sie vorbereitet hatte. Sie war bereits am Vortag angekommen, ihr kleiner Koffer war ausgepackt. Sie glättete die Tagesdecke, setzte sich auf das Bett und wusste nicht so recht, was sie tun sollte. Es stank nach Muff und Staub in diesem Zimmer. Und nach Mottenkugeln, dachte sie, widerlich, Katty könnte wenigstens lüften, bevor ich komme. Da sie gerade ohnehin nicht gut auf die kleine Schwester zu sprechen war, war Gertrud froh, einen Grund für Kritik gefunden zu haben. Sie stand auf, ging zum Fenster und öffnete es. Ihr Blickverlor sich in dem großen Garten. Er war umsäumt von haushohen Lebensbäumen. Wie groß die jetzt waren, damals waren sie allenfalls schulterhoch gewesen. Achtzig Jahre war es her, dass sie dort gesessen hatte. In Gedanken sah sie Katty als kleines Kind über den Rasen laufen. Es war für sie beide das erste Mal gewesen, dass sie den Tellemannshof betreten hatten, etwa ein halbes Jahr zuvor hatte sie Franz kennengelernt.
    Gertrud war gerade zwanzig geworden, sie würde diesen Tag nie vergessen. Sie hatte die Koffer für eine ihrer Schwestern gepackt, die erste, die aus der großen Familiengemeinschaft auszog. Gertrud war ein bisschen neidisch gewesen. Sie erinnerte sich, wie sehr sie sich nach Selbstständigkeit gesehnt hatte und dass sie endlich ein eigenes Leben hatte führen, der Enge zu Hause hatte entfliehen wollen. Wehmütig dachte sie an ihren Vater.
    Er hatte damals ebenfalls voller Euphorie in diesem Garten gesessen. Nicht zuletzt, damit er stolz auf sie sein konnte, hatte sie sich auch in schwierigen Situationen durchgeboxt und niemals aufgegeben. Sie hatte die Mittelschule besucht, war aufs Gymnasium gewechselt und hatte das Abitur geschafft. Manche Lehrer hatten sie dazu ermuntert und ihr gesagt, wie ungewöhnlich und wichtig das für sie als einfaches Bauernmädchen sei. Andere hatten versucht, sie davon abhalten. »Wozu?«, hatten sie gesagt. »Du wirst ohnehin bald heiraten. Dafür brauchst du kein Abitur.« Doch denen hatte sie es gezeigt. Sie war wissbegierig, hatte ein gutes Gedächtnis, und sie liebte es, zu lesen und zu lernen. Das Einzige, was ihr damals Sorgen bereitet hatte, war das Geld. Sie kostete ihren Vater Geld, statt welches zu verdienen, und war damit auch noch Vorbild für Paula gewesen, die ihrer großen Schwester in der Schule nachgeeifert hatte. Ihr Vater hatte sie beide in ihrem Wunsch nach Bildung unterstützt, obwohl er es sich nicht leisten konnte. Der kleine Hof, auf dem sie lebten, musste dreizehn Menschen ernähren, und ihr Vater war völlig überschuldet gewesen.
    Richtig modern war er, dachte Gertrud, als sie jetzt am Fenster stand, ungewöhnlich für jemanden, der noch vor der Gründung des Kaiserreichs geboren worden war. Jeder andere hätte seine ältesten Töchter möglichst schnell verheiratet, egal mit wem, damit sie aus dem Haus waren. Nicht so Ludwig Franken. Gertrud lächelte. Übertriebene Moralvorstellungen waren Ludwig Franken fremd gewesen, Epikurs Lehre gefiel ihm, und er machte sich eine eigene Mischung aus der griechischen und katholischen Lehre. Seiner Ansicht nach hatte jeder das Recht, im Diesseits nach Glück zu streben, aber nur so sehr, dass man gegebenenfalls auch in einem katholischen Jenseits nicht komplett anecken würde.
    Politisch gesehen wäre er heute sicher das, was man linksliberal nannte, überlegte Gertrud. Wenn das Katty wüsste, griente sie, die Diskussion möchte ich gerne hören. Katty war streng konservativ und ihrer Meinung nach war jeder, der nicht die CDU wählte, suspekt, verdächtig, im Grunde ein Terrorist. Ob sie für ihren eigenen Vater da eine Ausnahme machen würde? Damals war Katty noch zu klein gewesen, um sich mit ihm auseinanderzusetzen. Sie selbst und Paula hingegen hatten zu Hause immer viel diskutiert. Ludwig Franken war schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Anhänger der Deutschen Freisinnigen Partei gewesen, die sich rund um den Grafen Schenk von Stauffenberg gegründet hatte. Gertrud wunderte sich, dass ihr das alles in diesem Moment einfiel, aber es lag wohl daran, dass sich im Juli das berühmte
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