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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern
Autoren: Anne Gesthuysen
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Hitler-Attentat zum fünfzigsten Mal jährte und der Name deshalb in den Medien war. Es waren zwei verschiedene Grafen von Stauffenberg, der Parteigründer und der Hitler-Attentäter, aber verwandt waren sie doch mit Sicherheit gewesen, überlegte sie. Den Versuch, Hitler zu töten, hatte Ludwig Franken schon nicht mehr erlebt, aber er hätteihn vermutlich gutgeheißen. Er war im Grunde seines Herzens revolutionär gewesen. Er hatte von Bürgerrechten und Meinungsfreiheit geschwärmt, davon im Dorf allerdings niemanden begeistern können. Die Menschen am Niederrhein waren streng katholisch, eingeschüchtert von einem lieben Gott, der sehr genau vorschrieb, wie das Glück auf Erden zu sein hatte. Und alle machten mit, der sonntägliche Kirchgang war Pflicht. Sie waren damals auch einmal in der Woche zum Gottesdienst gegangen, heute hatte Gertrud das auf festliche Zeremonien und die Christmette eingeschränkt. Einen Vorteil muss das Alter ja haben, sagte sie sich, wenigstens hat man immer eine gute Ausrede. Damals hatten sie die Kirche vor allem ihrer Mutter zuliebe besucht, wobei ihr Vater es sich nicht hatte nehmen lassen, im Anschluss über die Predigt, die Bibel und die katholische Kirche zu sprechen und deren Lehre zu hinterfragen. Gertruds Mutter war darüber stets missmutig und der Sonntagnachmittag alles andere als ein Ruhetag in der Familie Franken gewesen. Ludwigs Ideen und Vorstellungen von der Welt mussten ihr ketzerisch vorgekommen sein, im Grunde hatte sie wohl Angst, dass Gott sie eines Tages für diesen Hochmut bestrafen würde. Doch Ludwig hatte seine Kinder dazu erzogen, Fragen zu stellen und zu diskutieren, und in Gertrud und Paula den Wunsch geweckt, zu lernen und zu lehren.
    Gertrud hatte gerade die Ausbildung zur Volksschullehrerin beendet, als sie Franz das erste Mal begegnete. Es war Kirmes in Rees, dem nächstgelegenen größeren Ort. Die Reeser waren im August 1914 in Feierlaune, denn knapp eine Woche zuvor hatte Deutschland Russland den Krieg erklärt, und es herrschte eine nationale Rauflust. Die älteren Männer im Festzelt konnten sich noch an die Schlacht von Sedan erinnern, sie erzählten mit glühenden Wangen davon und behaupteten, das Deutsche Reich könne Frankreich ungespitzt in den Boden rammen.

    Die Kirmesbesucher waren in diesem Jahr also besonders ausgelassen. Gertrud war jung, sie war nicht verlobt, aber mittlerweile sprach für sie nichts mehr dagegen, einen Mann zu finden. Und da stand er. Sie wusste vom ersten Moment an, dass sie genau diesen wollte.
    Franz war groß und schlank, ähnlich wie Gertrud. Sie war 1,75 Meter groß, damit überragte sie alle ihre Freundinnen um mindestens einen halben Kopf. Sie schaute ihn scheu an, wie er dastand, so leger an die Theke des Festzeltes gelehnt. Er hatte sich fein gemacht, im schwarzen Anzug, sein braunes Haar war kurz geschnitten, und er wirkte unglaublich selbstbewusst. Er lächelte sie an, sie blickte zu Boden. Dann begann die Tanzveranstaltung, und es dauerte nicht lange, bis Franz zu Gertruds Vater ging und fragte, ob er seine Tochter auffordern dürfe. Es war ein Walzer, und er schien endlos zu dauern. Gertrud war nicht besonders geschickt auf dem Parkett, und angesichts dieses galanten jungen Mannes kam sie sich vor wie ein Trampel. Zwar trat sie ihm nicht auf den Füßen herum, aber irgendwie waren ihre Knie ständig im Weg, ihre Schritte waren nicht elegant genug, und sie hatte das Gefühl, dass sie in der Linksdrehung zu langsam war. Sie schämte sich. Als der Walzer zu Ende war, schaffte sie es gerade noch, sich artig zu bedanken, dann lief sie zurück an den Tisch ihrer Familie. Sie hätte heulen können.
    Franz war all das wohl nicht aufgefallen. Vielleicht hatte er auch einfach dem Schnaps schon kräftig zugesprochen, jedenfalls kam er nach einer Weile erneut an ihren Tisch und fragte, ob er Gertrud besuchen dürfe.
    Franz lebte zwanzig Kilometer entfernt in Wardt, und als er einige Wochen später das erste Mal mit dem Fahrrad auf ihren Hof gefahren kam, wäre Gertrud gerne erneut im Erdboden versunken. Alles war klein und eng, sie waren arm und das sah man an jeder Ecke. Das Haus hatte im unteren Geschosskeinen Fußboden, sondern stand auf blankem Lehm. Sie hatten weder einen Salon, in dem sie mit Franz hätte sitzen können, noch irgendeinen anderen Raum, in dem man ungestört sein konnte. Also saßen die jungen Leute in der Küche, die kleineren Kinder liefen um sie herum, kreischten vor Vergnügen, und Josef, der
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