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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Gesthuysen
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damals sechs Jahre alt war, wollte unbedingt mit Franz Ball spielen. Es war entmutigend. Doch wider Erwarten schien es Franz zu gefallen. Bei ihm zu Hause sei es sehr still, erklärte er.
    Und so legte Gertrud ihre Hemmungen ab, und die beiden verliebten sich. Gertrud dachte gern an diesen Moment zurück, alles war so unbeschwert gewesen. Bis wir hierherkamen, dachte sie und schloss energisch das Fenster. Ihr war ein bisschen schwindlig geworden. Sie wusste nicht, ob das an ihrem niedrigen Blutdruck lag oder daran, dass die alten Gefühle wieder lebendig wurden.
    Sie merkte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Es fühlte sich an wie damals, gut ein halbes Jahr nachdem sie Franz kennengelernt hatte. Er hatte ihre Zukunft planen und sie seiner Familie vorstellen wollen. Und Gertrud war schlecht gewesen vor Aufregung.

5. April 1915
Das Schweigen der Hegmanns
    Der Frühling kam 1915 früher als gewöhnlich. Und so war es ein besonders warmer Tag Anfang April, als Gertrud sich mit ihren Eltern und der kleinen Katty für den wichtigen Besuch auf dem Tellemannshof zurechtmachte.
    Es war Ostermontag und Katty, die gerade fünf Jahre alt geworden war, hatte im Garten nach Ostereiern suchen dürfen. Wie verrückt war die Kleine über den Rasen getollt, hatte hinter jede Pusteblume geschaut und vor Freude mit ihren kurzen Beinchen fest aufgetrampelt, wenn sie wieder ein Ei gefunden hatte. Eier gab es im Hause Franken genug, sie hatten schließlich Hühner. Alles andere war Mangelware.
    Deshalb hatten sie auch kein vernünftiges Gastgeschenk für Familie Hegmann, was Gertrud seit Tagen beschäftigte, und so hatte sie Katty wenigstens noch ein paar Blumen pflücken lassen. Katty war die Einzige der Geschwister, die mitfahren würde. Alle anderen blieben unter Paulas Obhut zu Hause, was vor allem die Jungs ärgerte, die gerne mit Franz Ball gespielt hätten. Nun hatte Katty einen Narzissenstrauß gepflückt, und der sah gar nicht mal so schlecht aus, fand Gertrud. Zusammen mit dem selbst gebrannten Schnaps, den Gertruds Vater unter den Arm geklemmt hatte, musste es reichen.
    Ludwig Franken spannte den alten Wallach Neptun vor denWagen, Neptun ließ es sich stoisch gefallen. Dennoch hatte Gertrud Mitleid mit dem alten Tier. Bei der Hitze würde er sie weit ziehen müssen. »Na wenigstens bekommst du bei den Hegmanns guten Hafer, das verspreche ich dir«, tröstete sie das Pferd. Und das wieherte, als hätte es verstanden.
    Jedes Tier auf dem Hof trug den Namen einer Figur aus der römischen oder griechischen Mythologie. Der Hahn krähte unter dem Namen Apollo und die Sauen hießen Alekto, Megaira und Tisiphone, wie die Furien. Gertrud hatte von ihrem Vater die Liebe zu den alten Göttern, Halbgöttern und deren Fehlbarkeit übernommen. Immer und immer wieder hatte er seinen Kindern die alten Geschichten vorgelesen. Selbst die kleine Katty kannte sich im Olymp schon besser aus als in Empel, vermutete Gertrud.
    Sie blickte prüfend auf ihre Familie. Ludwig Franken war groß und dick. Er hatte trotz seiner fast fünfzig Jahre noch volles Haar, das sich kräuselte und das er deshalb unter einem runden Hut versteckte. Dazu trug er einen grauen Anzug aus grober Wolle, und selbst wenn man nicht genau hinschaute, sah man, dass dieser an den Ärmeln etwas fadenscheinig war. Ihre Mutter hatte etwas Aristokratisches. Sie war wie Gertrud sehr groß und beinahe dürr. Die langen, vorne geknöpften Kleider standen ihr hervorragend. Trotz ihrer ohnehin schlanken Taille bestand sie darauf, ein Korsett zu tragen, und mit dem Schleierhut wirkte sie tatsächlich edel. Bis auf die Hände. Die grobe Hornhaut verriet sie als Bäuerin, und auch ihr Gesicht war unter dem Schleier sonnengegerbt wie das einer Arbeiterin. Gertrud fragte sich, ob Franz’ Mutter auch auf dem Feld arbeitete. Wohl nicht, vermutete sie und bereitete sich darauf vor, eine Frau von nobler Blässe kennenzulernen. Sie hatte kein gutes Gefühl.
    Gertrud hatte sich von ihrem Lehrerinnengehalt feinen grauen Stoff geleistet und daraus ein eng anliegendes Kostümgeschneidert. Der Rock war lang und reichte bis zum Knöchel, die Jacke besaß moderne kleine Polster an den Schultern. Auf ein Korsett verzichtete sie selbstverständlich, sie fand die Dinger grässlich. Warum sollte sie sich den Körper auf fünfundfünfzig Zentimeter einschnüren lassen, wenn der doch eigentlich mindestens fünfundsechzig Zentimeter breit sein wollte? Wer hatte etwas davon, wenn sie ständig nach Luft rang, ihr

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