Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern
Autoren: Anne Gesthuysen
Vom Netzwerk:
sie müsse auf Eier und Käse verzichten; Alkohol sei ebenfalls schädlich. Die ganze Familie wusste, dass es daran nicht liegen konnte, denn die Mutter hatte nie Alkohol getrunken, und seit Monaten aß sie fast nur Brot, von allem anderen wurde ihr übel. Als sich ihr Zustand nach ein paar Wochen nicht besserte, riet ihr der Arzt, sie solle lebende Schafsläuse essen. Das Sekret, das die Insekten beim Sterben absonderten, könne die Leber heilen. Kattys Familie war nicht leichtgläubig. Ihr Vater las viel, alle Geschwister hatten gute Schulen besucht, ihre älteren Schwestern waren sogar Lehrerinnen, und man galt im Dorf als gebildet. Dieser Rat des Arztes erschien ihnen unsinnig und grenzte an Scharlatanerie, dennoch klammerte sich ihre Mutter an die Hoffnung. Sie betete viel. Täglich schleppte sie sich zwei Mal in die Kirche, kniete, so gut es ihre spitzen Knochen noch zuließen, und wenn sie nicht betete, aß sie Weißbrot mit Läusen.
    Gertrud buk das Brot schon damals selbst. Sie war eine Künstlerin. Ihr Weißbrot war luftig, weich und wunderbar süß. Man musste die Scheiben sehr dick schneiden, damit sie nicht zerfielen. Kattys Mutter strengte sich an. Sie wollte gesund werden, wollte weiterleben. Auf das Weißbrot schmierte sie Butter, darin fing sie die Läuse ein. Sie schloss die Augen, biss zu, schluckte und würgte, um dann in sich hineinzuhorchen, ob die Läuse wohl ihre Arbeit taten.
    Katty und ihre Geschwister sammelten täglich Schafsläuse ein. Es gab genug davon in Empel, und die Bauern hatten nichtsdagegen, wenn die jungen Frankens ihre Tiere von dieser Last befreiten. Die älteren Geschwister legten die Schafe wie beim Scheren auf den Rücken und suchten an den Seiten nach den Läusen. Für Katty war das zu schwierig, sie setzte sich deshalb rittlings auf die Tiere und klaubte die Viecher von oben ab. Manchmal rannten die Schafe einfach los und galoppierten mit ihr durch die Wiese. Nach einer Weile, wenn die Schafe anfingen zu blöken, ließ sie sich herunterfallen und gönnte ihnen den kleinen Triumph. Die Läuse wurden sorgfältig in einem Einmachglas gesammelt, in dem vorher saure Gurken eingekocht worden waren. Und vermutlich wurden die Insekten von der Restsäure, die noch darin war, sofort betäubt. Jedenfalls machten sie keine Anstalten, aus dem Glas wieder herauszugelangen.
    Es war Frühjahr, als sie die ersten Läuse sammelten, und da die Mutter ihre Brote tapfer reinstopfte, nahm sie tatsächlich wieder zu. Die Familie schöpfte Hoffnung, vielleicht würde das merkwürdige Hausmittel tatsächlich wirken. Aber im Sommer verschlechterte sich ihr Zustand erneut. Die Mutter war nur noch Haut und Knochen, allein der Bauch war dick und aufgebläht. Der Darm arbeitete nicht mehr. Sie sah aus, als hätte sie lange Zeit draußen gearbeitet, denn ihre Haut war sonderbar gebräunt. Morgens, wenn die Haut durchblutet war, sah sie sehr gesund aus. Abends in fahlem Licht allerdings wirkte sie längst wie eine Leiche – in Wahrheit war sie nämlich quittegelb. Ihr Lachen, das Katty immer so sehr gemocht hatte, war eingefallen, und im Grunde waren ihre Gesichtsmuskeln nicht mehr stark genug, um die Mundwinkel ganz nach oben zu ziehen. Wenn sie nun lachte, sah es aus, als wäre sie mit offenem Mund im Sitzen eingeschlafen. Die Augen fielen zu, der Mund stand offen und das Glucksen aus der Kehle konnte man nur noch ahnen.
    Eines Morgens wurde Katty von ihrem Vater geweckt, sie solle bitte schnell kommen, die Mutter sei verrückt geworden.Katty stand auf und sah ihre Mutter im Nachthemd an der verschlossenen Eingangstür rütteln, im rechten Arm einen alten Besenstiel, an den sie eine Kordel geknüpft hatte. Sie wolle in der Oude Maas angeln und schwimmen, beteuerte sie immer wieder, und man möge sie jetzt endlich gehen lassen. Sie sagte das alles auf Holländisch oder in einem sehr breiten Plattdeutsch, jedenfalls hatte sogar Katty Mühe, sie zu verstehen. Ihre Mutter kam aus Gennep, das lag 1869, als sie geboren wurde, außerhalb des Norddeutschen Bundes. Sie war Holländerin, Gennep gehörte zur Provinz Limburg. Direkt vor ihrer Haustür schlängelte sich ein alter Arm der Maas, in dem hatte ihre Mutter wohl als Kind immer gespielt, und da wollte sie jetzt hin, bepackt mit Angelrute und Eimerchen. Kattys Mutter war wach, aber sie sah ihre Familie nicht. Lästige Hindernisse waren sie auf dem Weg in ihre Kindheit. Sie erkannte weder ihren Mann noch ihre jüngste Tochter, nur der Lieblingssohn Josef
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher