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Wir sind doch Schwestern

Wir sind doch Schwestern

Titel: Wir sind doch Schwestern
Autoren: Anne Gesthuysen
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den Haustöchtern, wie die jungen Auszubildenden auf dem Hof genannt wurden, vorzog. Katty hatte ihn in den ganzen Jahren, in denen sie bereits auf dem Hof war, niemals weinen sehen. Manchmal hatte sie gedacht, es sei vielleicht anatomisch unmöglich. »Vatti«, so hatte Theodor ihn immer genannt, dabei klang das A stumm, kurz und abgehackt und das T knallte wie eine Peitsche durch die Luft, insgeheim hatte sie die Bezeichnung übernommen. Offiziell blieb Heinrich natürlich »Herr Hegmann«, aber für sie und Theodor war er Vatti. Vatti also hatte riesige Tränensäcke. Zusammen mit dem Halbrund seiner Augenbrauen bildeten die tiefen Ränder einen Kreis um seine Augen, und deshalb hatte Katty manchmal gedacht, die Tränen würden in die Tränensäcke abfließen wie in einen großen Eimer. So viel, dass sie über das Unterlid gequollen wären, um dann über die Wange zu laufen – so viel konnte ein Mann gar nicht weinen. Auch eben hatte er nicht geweint. Verärgert hatte er die Brauen zusammengezogen. Und Katty war nicht sicher gewesen, ob sich sein Unmut gegen den verstorbenen Sohn oder gegen den Mann von der NSDAP richtete. Der Funktionär war eingeschüchtert gewesen. Seine Goldknöpfe waren frisch poliert, sie funkelten geradezu. Er hatte offensichtlich Angst. Man ging nicht einfach so zu Heinrich Hegmann und überbrachte eine schlechte Nachricht. Beim ersten »Bitte« zuckte er zusammen. Man sah, wie er sich Mut zusprach. Wie er die Schultern straffte, das Kinn nach vorne reckte. Er sog Luft durch die Nase ein, das Geräusch schien ihm Bedeutung zu verleihen. Dann holte er ein Schreiben hervor. »Sehr verehrter Herr Bauer Hegmann«, verlas er, »nach Tagen bangen Wartens erhielt ich heute durch ein Schreiben des Internationalen Roten Kreuzes die bedauerliche Nachricht, dass Ihr Sohn Theodor, unser junger Leutnant Hegmann, in Unkel für sein Vaterland auf dem Felde der Ehre gefallen ist.« DerBrief endete, wie üblich, mit »Heil Hitler«. »Mein Beileid«, hatte der Goldfasan noch gestammelt, dann war er hinausgerannt. Beinahe hatte er vergessen, den Brief dazulassen. Wahrscheinlich hatte er befürchtet, Vatti würde ihn höchstpersönlich mit seinen großen Händen in den Schwitzkasten nehmen und Wut und Enttäuschung an ihm auslassen.
    Sie hatten allein im Flur gestanden, und Katty hatte nicht einen Moment das Bedürfnis verspürt, Vatti in den Arm zu nehmen oder zu trösten. Zugenickt hatte sie ihm. Eigentlich hatte sie nur kurz beide Augen mit Schwung zugemacht. Sie hatte Entschlossenheit zeigen wollen und dass sie wisse, was zu tun sei. Sie kannte sich ja aus mit dem Sterben. So viele geliebte Menschen hatte sie inzwischen zu Grabe getragen, dass sie manchmal fürchtete, es gebe so etwas wie eine Sterbe-Routine. Vielleicht musste sie deshalb nicht weinen. Vielleicht hatte sie einfach keine Tränen mehr übrig. Auch Vatti hatte schon genug Menschen beerdigt. Seine Eltern, seinen Bruder, seine erste Frau. Sie war kurz nach der Geburt des zweiten Kindes gestorben. Es wäre ein Mädchen gewesen. Aber die Kleine hatte wohl falsch herum im Bauch gelegen und der Geburtsvorgang quälend lange gedauert. Über Stunden hatte die arme Frau geschrien. Die Nachbarn erzählten noch heute mit einem Schaudern davon. Angeblich waren die Schreie nämlich im ganzen Dorf zu hören gewesen. Na ja, dachte Katty, die Leute hier reden halt viel.
    Nach dem Tod seiner Frau hatte Heinrich Hegmann Katty auf den Hof geholt, das war kurz vor Weihnachten 1934 gewesen. Sie sollte den Hausherrn und das Kind versorgen. Theodor war damals dreizehn, Katty war vierundzwanzig und fühlte sich sofort wie eine ältere Schwester für den Halbwaisen. Auch ihre Mutter war gestorben, als sie noch jung war. Sie hatte nur wenige Erinnerungen an sie, es waren ihre großen Schwestern, Gertrud und Paula, gewesen, die sie erzogen hatten, zu denensie gelaufen war, wenn sie sich fürchtete oder wenn sie traurig war. Paula hatte für sie gesorgt und Gertrud sie Anstand und Moral gelehrt. Katty liebte die eine Schwester innig und der anderen stand sie dankbar und voller Respekt gegenüber. Im Grunde war es Gertrud zu verdanken, dass Katty auf den Tellemannshof gekommen war. Sie hatte eine Verbindung zu Heinrich Hegmann gehabt. Die besten Familien des Niederrheins hatten ihre Töchter bei ihm unterbringen wollen, schließlich war er nicht nur ein vermögender Bauer, er war auch Abgeordneter im Preußischen Landtag gewesen, ein Zentrumspolitiker. Doch als die
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