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Wir neuen Großvaeter

Wir neuen Großvaeter

Titel: Wir neuen Großvaeter
Autoren: Rainer Holbe
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Benjamin überhaupt nicht existierte. Er war eine Kunstfigur, hinter der sich der Redakteur Peter Thelen verbarg. Er empfing mich freundlich, studierte unser Blättchen und machte mir und meinen Freunden ein tolles Angebot: Wir sollten eine ganze Zeitungsseite frei gestalten, mit eigenen Reportagen und Fotos. Sigrun B. durfte im Cockpit mit einer Pan-am- Maschine nach Berlin fliegen, Volker M. interviewte den Oberbürgermeister in seinem Amtszimmer, und ich frühstückte mit einer Clique junger Schimpansen in der Wohnküche der Familie Grzimek im Zoo. Die Frau des Direktors hatte die Tiere mit einer Flasche aufgezogen und betreute sie wie Menschenkinder. Als ich mich verabschiedete, warf mir einer der Affen eine Banane hinterher.
    Als Redakteure von Im Blitzlicht fabrizierten wir uns unsere eigenen Presseausweise und staunten nicht schlecht, als wir damit freien Eintritt in den Zoo, in den Palmengarten und in das Senckenberg-Museum bekamen.
    Die Fünfzigerjahre waren eine tolle Zeit. Fast jeden Abend besuchte ich mit meinem Freund Molli das Schauspielhaus. Zehn Minuten vor Beginn wurden die übriggebliebenen Eintrittskarten für fünfzig Pfennig an Schüler verkauft – im Gegensatz zu den Jugendvorstellungen der Kinos, die für den Eintritt sechzig Pfennig verlangten. Auf dem Spielplan standen Stücke wie Des Teufels General , aber auch die versammelte Avantgarde von Tennessee Williams bis Jean Paul Sartre, Kein Krieg in Troja von Jean Giraudoux und Die Gerechten von Albert Camus. Eines Abends saß ich direkt hinter Bert Brecht und schaute
während der Vorstellung von Schwejk im Zweiten Weltkrieg fasziniert auf den Hinterkopf des berühmten Dichters.
    Für Molli und mich waren die Schauspieler vom Olymp gestiegene Götter. Wenn uns Hans-Dieter Zeidler, Hans-Georg Laubenthal oder Martin Held auf der Straße begegneten, zogen wir ehrfürchtig unsere Mützen.
    Der Intendant Harry Buckwitz war schon zu Lebzeiten eine Theaterlegende. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er den Redakteuren des Blitzlichts ein Interview gewährte. Wir glänzten mit Sachkenntnis, lobten die ein oder andere Inszenierung und scheuten uns auch nicht, Empfehlungen für den nächsten Spielplan auszusprechen. Als Buckwitz vor so viel Anerkennung fast vor Freude platzte, wagten wir den längst geplanten Vorstoß: Wir boten uns als Darsteller an. Hamlet und Faust waren besetzt, aber in der Komparserie müsste noch eine Vakanz zu finden sein, brummelte der Chef. Das Unglaubliche geschah. Buckwitz engagierte uns vom Fleck weg als nubische Sklaven für die nächste Aufführung von Aida .
    Â 
    Am darauffolgenden Sonntag fanden wir uns bereits gegen Mittag am Bühneneingang der Oper ein, bekamen eine Art Tanga und malten uns gegenseitig mit schwarzer Farbe an. Der Regieassistent wies uns ein. Zusammen mit vier anderen Sklaven würden wir auf einer Sänfte Prinzessin Aida auf die Bühne tragen – eine schwergewichtige Rolle, die mit der Sopranistin Anny Schlemm besetzt war. Als sie kurz vor der Vorstellung in den Kulissen erschien, goldglänzend und im vollen Ornat, musterte sie ihre Sänftenträger von oben bis unten. »Bube«, sagte sie im schönsten Frankfurterisch. »Bube, lasst mich bloß net dotze!«
    Tatsächlich kamen wir mit der Sänfte beträchtlich ins Schwanken, als wir unter den Klängen des »Triumphmarsches«
auf der hell erleuchteten Bühne erschienen. Dort wimmelte es bereits von ägyptischen Priestern, Beamten des Pharaos und gemeinem Volk. Am Pult stand übrigens der Generalmusikdirektor persönlich, der umschwärmte Georg Solti, der später Chef der berühmten Metropolitan Opera in New York werden sollte. Ungeniert konnte ich danach in meinem Lebenslauf vermerken: »Habe unter Solti sieben Mal die Aida gegeben.«
    Â 
    Nach der Mittleren Reife bewarb ich mich bei der Frankfurter Rundschau als Redaktionsvolontär. Trotz der zahlreichen Artikel, die ich bereits für das Blatt geschrieben hatte, wollte man mich nicht haben. Ohne Abitur war nichts zu machen. Doch ich bekam eine Chance: Nach drei Jahren Lehrzeit als Verlagskaufmann sollte ich in die Redaktion übernommen werden.
    Wenn mich einer fragt, was wohl der glücklichste Tag in meinem Leben gewesen ist, dem antworte ich ohne Zögern: »Der 1. April 1961 !« Ich erhielt einen eigenen Schreibtisch in der Lokalredaktion, eine eigene Schreibmaschine
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