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Wir neuen Großvaeter

Wir neuen Großvaeter

Titel: Wir neuen Großvaeter
Autoren: Rainer Holbe
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Schädel, von dem ich mich anfangs aus seinen toten Augenhöhlen beobachtet fühlte. Irgendwann hatte ich mich an den Schädel gewöhnt und beachtete ihn nicht mehr. Bis zu jenem Donnerstag, als mir fast das Herz stehenblieb. Der Totenkopf bewegte sich, ganz langsam. Er bewegte sich hin und her und her und hin …
    Vor Schreck ließ ich die volle Kanne fallen – die kostbare Milch versickerte auf dem Kiesweg – und rannte nach Hause.
    Meine Mutter war nicht sehr amüsiert, als sie die leere Kanne in den Händen ihres am ganzen Leib zitternden Sohnes bemerkte.
Natürlich glaubte sie mir nicht, als ich ihr die Mär vom wackelnden Totenkopf erzählte. Da ich schon als Fünfjähriger meine Zuhörer mit erfundenen Geschichten beglückt hatte, schob sie auch die Story vom wackelnden Totenkopf ins Reich meiner Fantasie. Ihrer Meinung nach war ich gestolpert und hatte dabei die Milch verschüttet.
    Ich ließ nicht locker, weinte und zeterte und bat um einen Lokaltermin. Dann würde sie schon sehen. Mutter ließ sich überreden – und erstarrte fast zu der in der Bibel erwähnten Salzsäule. Der Totenkopf wackelte noch immer – hin und her und her und hin.
    Völlig verstört trafen wir ein paar Knechte auf dem Hof, die sich schier ausschütten wollten vor Lachen, als sie die Geschichte hörten. Nur mit Mühe waren sie zu einem Besuch auf den Friedhof zu überreden, zumal es schon langsam dunkelte. Minuten später wurde die zunächst noch lärmende Horde mucksmäuschenstill: Der Totenkopf wackelte noch immer. Hin und her und her und hin.
    Als kurze Zeit danach auch Bauer Hecht zusammen mit seiner Frau Regine* kreidebleich vom Besuch am Kriegerdenkmal zurückkam, machte die Nachricht die Runde im Dorf. Es waren bestimmt dreißig Leute, die einen Halbkreis um das »Wunder des wackelnden Schädels« bildeten. Manche murmelten Beschwörungsformeln, wieder andere schlugen das Kreuz und riefen nach dem Herrn Pastor.
    Wie auf ein göttliches Zeichen erschien plötzlich der Gendarm Meier* auf der Bildfläche.
    Auf seiner Uniform aus dem gerade zu Ende gegangenen Tausendjährigen Reich waren zwar die Hoheitsabzeichen abgetrennt worden, aber seine Pistole hatte er behalten dürfen. Mit
der zielte er jetzt auf den knöchernen Schädel, der sich – ohne sich um das Aufsehen um ihn herum zu kümmern – noch immer hin und her bewegte.
    Gendarm Meier rief: »Halt, im Namen des Gesetzes!« Der Schädel schien sich nicht um das Gesetz zu kümmern. Er wackelte weiter. Da drückte der Gendarm ab. Noch heute höre ich den Knall in meinen Ohren. Er hatte getroffen. Ein sauberer Schuss. Der Schädel zersprang in zwei Teile. Und bewegte sich nicht mehr. Langsamen Schrittes näherte sich das »Auge des Gesetzes« dem »Corpus Delicti«. Dann brach er in schallendes – weil erlösendes! – Gelächter aus und rief: »Mäuse, es waren Mäuse!«
    Der Totenschädel war nun endgültig dahin und mit ihm zwei kleine Feldmäuse, die in dem ehrwürdigen Relikt hin und her gesaust waren, her und hin. Ob man sie nach ihrem Ableben auf dem Friedhof bestattet hat, weiß ich nicht mehr.

Goethes FAUST zum Weihnachtsfest
    Weltliteratur für einen Achtjährigen
    Als Flüchtlingskind im Sachsenhäuser Bunker
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    Das Leben auf dem Dorf in der Altmark war wunderbar. Als ich später die Abenteuer des Tom Sawyer las, habe ich viel von dem wieder erkannt, was mir selbst widerfahren ist. So wie Tom sein Leben in totaler Freiheit am Mississippi erlebte, so ging es mir in der Altmark.
    Mit acht Jahren kam ich in das vom Krieg zerstörte Frankfurt, in dem Leo, Max und Ferdinand inzwischen zu Hause sind. Meine Eltern hatten die Flucht über die bereits geschlossene Grenze gewagt, weil in Frankfurt Tante Rosa und Onkel Adolf aus der alten böhmischen Heimat bereits Unterschlupf gefunden hatten, und weil die Gegend von den Amerikanern besetzt war. Wo Amerikaner waren, gab es CARE -Pakete mit Schokolade für die Kinder und Zigaretten für die Väter. Was für die Mütter drin war, weiß ich nicht. Ich habe nie ein solches Paket bekommen.
    Es war ein nebliger Novembermorgen, als wir uns in dem kleinen Dorf in der Altmark auf den Weg in den Westen machten.
    Mein Vater hatte die Nacht – und Nebelaktion bestens organisiert. Bei Dunkelheit schlichen wir durch ein Moor,
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