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Wir müssen leider draußen bleiben

Wir müssen leider draußen bleiben

Titel: Wir müssen leider draußen bleiben
Autoren: K Hartmann
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Suchtkranke und Obdachlose zählen, wenig gemeinsam – außer dass sie als Kaste der Nutzlosen und Überflüssigen ge brandmarkt werden. Nutzlos sind Arme aber nur vordergründig, denn die Wirtschaft profitiert an ganz anderer Stelle von ihnen: sie stellen die industrielle Reservearmee, die es möglich macht, Lohnkosten zu drücken. Nicht nur dass die Langzeitarbeitslosen durch miserabel bezahlte Leiharbeit oder andere »Maßnahmen« zu fast kostenloser Arbeit gezwungen werden: Sie geben die Drohkulisse ab, vor der Wirtschaftsmächtige Löhne drücken und arbeitspolitische Entscheidungen durchsetzen können, die ihren eigenen Reichtum mehren.
    Die Verrohung des Bürgertums
    In einem der monströsen Betontürme der Universtät Bielefeld befindet sich das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Seit 30 Jahren kann Wilhelm Heitmeyer aus dem Panoramafenster seines Büros auf den Teutoburger Wald schauen; es ist Herbst, die Blätter der Bäume färben sich rot und gelb. Vor wenigen Monaten ist die Langzeituntersuchung »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« zu Ende gegangen, die Heitmeyer zehn Jahre leitete. Darin erkundeten die Bielefelder Sozialforscher, wie Menschen unterschiedlicher sozialer, religiöser und ethnischer Herkunft mit ihren verschiedenen Lebensstilen in der Gesellschaft leben. Wie sie integriert sind und vor allem, in welchem Maße sie Vorurteilen und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Zu den gesellschaftlichen Phänomenen, deren Entwicklung Heitmeyer und seine Mitarbeiter analysierten, gehören Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit, Sexismus sowie die Abwertung von Obdachlosen, Homosexuellen, Behinderten und die Einforderung von Etabliertenvorrechten. Es ist das weltweit größte wissenschaftliche Projekt, das Vorurteile untersucht. Dazu wurden seit 2002 jedes Jahr 2000 repräsentativ ausgewählte Personen in Deutschland interviewt. Im Abstand von zwei Jahren wurden diese abermals befragt, um herauszufinden, wie sich ihre Ansichten verändert haben. 39
    »Wir untersuchen gesellschaftliche Diskurse. Und als die Debatten über Sozialschmarotzer und Hart-IV-Empfänger losgingen, haben wir genauer hingeschaut und entsprechende Fragen gestellt«, sagt Heitmeyer. 2007 stellten die Wissenschaftler schließlich fest, dass Langzeitarbeitslose eine neue eigene Gruppe von Diskriminierungsopfern ausmachen: Mehr als die Hälfte der Deutschen nimmt eine abwertende Haltung gegen Langzeitarbeitslose ein. »Die Abwertung Langzeitarbeitsloser ist wieder angestiegen. Das ist ein stabiles Feindbild«, sagt Heitmeyer zum Abschluss der Studie. So finden es 61,2 Prozent der Deutschen empörend, »wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machen.« 52,7 Prozent sind überzeugt, dass die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert sind, einen Job zu finden. Mehr als ein Viertel der Deutschen denken: wer nach längerer Arbeitslosigkeit keinen Job findet, ist selber schuld. Und mehr als die Hälfte der Deutschen glauben im Ernst, dass die Ursache der Finanzkrise diejenigen sind, die den Sozialstaat ausnutzen. 40 Als wären es die Hartz-IV-Empfänger gewesen, die ihren Regelsatz für Schuhe an der Börse verzockt und damit den Finanzmarkt zum Kollabieren ge bracht. Als hätten die Armen von einer schamlosen Klientelpolitik zugunsten von Konzernen und Wirtschaftselite profitiert. Als hätten die Bedürftigen Schuld am Abbau des Sozialstaats, weil sie ihren Notgroschen in die Schweiz geschafft haben.
    Warum werden ausgerechnet die Verlierer zu Gewinnern stilisiert? Weshalb schlägt ausgerechnet den Schwächsten die größtmögliche Feindseligkeit entgegen? Heitmeyer und seine Kollegen haben in den vergangenen Jahren vor allem die Auswirkungen sozialer Einschnitte wie Hartz IV und der Finanzkrise auf die »Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« untersucht. »Es hat auf der einen Seite einen Kontrollgewinn des Kapitals gegeben und auf der anderen Seite einen Kontrollverlust der nationalstaatlichen Politik. Während Letztere ihre Legitimation aus sozialer Integration zieht, hat das Kapital überhaupt kein Interesse daran«, sagt Heitmeyer. Er sieht die Ursache der Abwertung vor allem in der Ökonomisierung: »In einem kapitalistischen System fressen sich die Logiken von Effizienz und Verwertbarkeit immer weiter in Institutionen hinein, die eigentlich nicht nach ökonomischen Grundsätzen funktionieren, also Familie Schule und
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