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Wir müssen leider draußen bleiben

Wir müssen leider draußen bleiben

Titel: Wir müssen leider draußen bleiben
Autoren: K Hartmann
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Porsche ist vielleicht nicht drin – aber in Deutschland muss schließlich keiner hungern. Uns geht es doch relativ gut hier! Auch deshalb wird den Armen in reichen Ländern bestenfalls mit Gleichgültigkeit begegnet – meist aber mit Zorn oder Verachtung. »Alle [in den materiell wohlhabenden Ländern] haben genug zu essen, keiner geht unbekleidet, und jeder hat ein Dach über dem Kopf. Ebenso haben alle Zugang zu schulischen, medizinischen und kulturellen Einrichtungen. Not im eigentlichen Sinne dieses Wortes braucht niemand mehr zu leiden«, behauptet etwa der neokonservative Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel. 23 Nichts davon ist richtig. Dennoch hält Miegel es für eine »zynische Missachtung des wirklichen Elends Hunderter von Millionen Mitmenschen, denen das Nötigste zum Leben und nicht nur der soziale Status fehlt«, wenn man Menschen in Deutschland als arm bezeichnet. Schließlich hätten die Hartz-IV-Empfänger »einen materiellen Lebensstandard, der höher, zum Teil sogar viel höher ist als der Lebensstandard von drei Vierteln der heutigen Weltbevölkerung oder als der Lebensstandard großer Bevölkerungsteile in Ländern wie Deutschland vor 50 Jah ren .« 24 Das wiederum ist eine zynische Missachtung der Lebensrealität von Armen in wohlhabenden Ländern: Natürlich kann man die Armut von Langzeitarbeitslosen in Deutschland nicht vergleichen mit dem Elend von Hungerflüchtlingen in Äthiopien, schließlich leben die einen in Deutschland, die anderen in Äthiopien. Relativ arm bedeutet nicht: im Vergleich zu Afrika – sondern in Relation zum sozialen Umfeld. 25 Die Schwere der Armut in Deutschland rührt nicht allein von einem materiellen Mangel her, sondern von einem Mangel an Teilhabe und Anerkennung. Die Armut in der Konsumgesellschaft kann deshalb sogar noch deprimierender sein als die in armen Ländern.
    Ganz sicher gab es im Nachkriegsdeutschland eine Menge Menschen, die bitterarm waren. Sehr viele hatten sehr viel ver loren, schon deshalb war Armut kein Stigma. Niemand musste sich rechtfertigen. Auch die Armut in Bangladesch, die ich bei meiner Recherchereise zu diesem Buch gesehen habe, ist himmelschreiend und erschütternd. Doch den Menschen dort macht man ihre Armut nicht zum Vorwurf. Sie sind nicht vereinzelt und nicht stumm; viele von ihnen tragen ihren Unmut auf die Straße. In Deutschland und anderen wohlhabenden Ländern Europas aber wird den Armen nicht einmal ihr persönliches Leid zugestanden. Man nimmt ihnen sogar noch die Armut weg.
    Armut in Deutschland ist deshalb ein Gradmesser für die immer stärker werdende soziale Ungleichheit. Die Medaille hat zwei Seiten, denn Armut ist ohne Reichtum nicht denkbar. Je ärmer die Menschen in Deutschland insgesamt sind, desto mehr Reichtum konzentriert sich bei einigen wenigen. Das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung ( IMK ) hat herausgefunden, dass in den Jahren 2000 bis 2006 der Anteil der armutsgefährdeten Schichten an der deutschen Bevölkerung von 18,9 auf 25,4 Prozent gestiegen ist, während gleichzeitig der Anteil der einkommensstarken Schichten von 18,8 auf 20,5 Prozent anwuchs. 26
    Als wir uns verabschieden, sagt die Pressesprecherin, sie habe Hartz IV einmal selbst ausprobiert. Ich stutze, denn dass eine Hartz-IV-Empfängerin zur Konzernsprecherin aufsteigen könnte, kommt mir unwahrscheinlich vor. Laut einer Untersuchung der Bundesagentur für Arbeit von 2007 schaffen es nur 34 von 1000 Hartz-IV-Empfängern, einen sozialversicherten Arbeitsplatz zu bekommen. 27 Wie also kann man Hartz IV »ausprobieren«? Sie habe, sagt die Pressesprecherin, während der Fastenzeit am sogenannten »Hartz-IV-Fasten« einer evangelischen Landeskirche 28 teilgenommen.
    »Hartz-IV-Fasten« bedeutet, dass die Teilnehmer für die Dauer der Fastenzeit (oder auch nur vier Wochen) freiwillig von dem für sie errechneten Hartz-IV-Satz leben. Gewiss gut gemeint und dazu gedacht, Sensibilität für die Lebenssituation Bedürftiger zu schaffen und Vorurteile abzubauen, indem die Teilnehmer Hartz IV am eigenen Leib erfahren. Die meisten, die sich der Aktion anschlossen, stellten wohl fest, dass von Hartz IV zu leben vor allem Verzicht bedeutet. Doch das tatsächliche Ausmaß des Elends dürfte keiner erlebt haben: die Ausweglosigkeit, die existenzielle Bedrohung, den Verlust der persönlichen Freiheit, weil man nicht einmal mehr über Nacht die Stadt verlassen darf, ohne sich beim Amt Erlaubnis dafür zu holen, die komplette Offenlegung
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