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Wir müssen leider draußen bleiben

Wir müssen leider draußen bleiben

Titel: Wir müssen leider draußen bleiben
Autoren: K Hartmann
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niemand zu uns umdrehte, wenn wir den Raum betreten; wenn niemand antwortete, wenn wir sprechen; wenn niemand wahr nähme, was wir tun; wenn wir von allen geschnitten und als nicht existierend behandelt würden, dann würde eine derartige Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufsteigen, dass im Vergleich dazu die grausamste körperliche Qual eine Erlösung wäre.«
    William James, US -amerikanischer Psychologe, 1890 1
    1. Kultivierter Hass
    Warum die Konsumgesellschaft ihren Bestand durch Ausgrenzung sichert und die Mittelschicht sich nach oben orientiert, während sie nach unten tritt
    Der großzügige Flur der Chefetage sieht aus wie eines dieser kreativ eingerichteten Lofts, die man aus Lifestyle-Magazinen kennt. Auf einem schicken Sideboard steht eine Espressomaschine, vor einer Wand mit Mustertapete ein helles Sofa, dazu weiß glänzende Möbel. Eine Mischung aus Lounge und Design-Wohnzimmer. Die Fotografen bauen ihr Equipment auf, in Kürze beginnt mein Interview mit der deutschen Sprecherin eines multinationalen Konzerns mit Milliardenumsatz. Zuvor plaudern wir in entspannter Wohnzimmeratmosphäre. Ich erzähle von der Arbeit an diesem Buch und darüber, dass ich bei den Tafeln recherchiere, die sich zum Ziel gesetzt ha ben, überschüssige Lebensmittel aus Supermärkten an Bedürftige zu verteilen. »Interessant«, findet die Pressesprecherin, darüber mache sie sich auch Gedanken: »Ich überlege ja oft, was man machen könnte, damit die Leute lernen, Essen zu schätzen.« Ja, sage ich und denke an Supermarktrampen, auf denen kistenweise Lebensmittel stehen, die aussortiert wurden, weil sie nicht gut genug scheinen. 20 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland jedes Jahr weggeworfen; ein Skandal in der Tat. Doch sie meint etwas anderes: »Ich finde, die Leute, die bei der Tafel Essen holen, sollte man dazu verpflichten, gemeinnützige Arbeit zu leisten.« Hoppla. Disziplinierungsmaßnahmen, die ansonsten für straffällig gewordene Jugendliche angewendet werden? Für Menschen, die so ausweglos arm sind, dass sie ohne Lebensmittelspenden nicht über die Runden kommen? Abgesehen davon, dass die meisten Tafelnutzer den Wert von Lebensmitteln schon deshalb kennen, weil sie diese im Supermarkt kaum bezahlen können: Warum sollen Alleinerziehende, Rentner und Niedrigstlöhner auch noch Straßen fegen und Hundescheiße aufsammeln, damit sie was in den Magen kriegen? »Weil die sonst das Essen bloß in den Müll schmeißen«, sagt die Pressesprecherin.
    Ich habe bereits mit vielen Tafelnutzern gesprochen und sie nach Hause begleitet, habe Ehrenamtlichen beim Verteilen zugesehen und bin die Abholtouren zu den Supermärkten mitgefahren. Dabei hatte ich eine erschütternde Welt der Scham und des persönlichen Leids kennengelernt. Und Menschen, die trotz täglicher Demütigungen mit aller Kraft versuchen, ein Leben in Würde zu führen, obwohl sie von der Gesellschaft weder Anerkennung noch Respekt erfahren. Der Gedanke, dass jemand sich dazu überwindet, für übrig gebliebenes Essen Schlange zu stehen, nur um es anschließend wegzuschmeißen, ist nachgerade absurd. Wie kommt eine Frau, die der gehobenen Mittelschicht angehört und sich sicher nicht in der Tafelwelt bewegt, auf diese Idee? Sie habe, sagt sie, von einem Lehrer gehört, dass Kinder aus Hartz-IV-Familien eine Pizza lieber in den Müll schmeißen würden, als ihren Mitschülern ein Stückchen davon abzugeben. Aha.
    Ein Freundesbesuch am Stadtrand, auf dem neu gebauten Ökohaus glänzen Solarzellen. Es ist ein warmer Frühsommertag, wir sitzen auf der Terrasse, trinken Kaffee mit Biomilch. Die Frau ist Referendarin an der Hauptschule in der nächstge legenen Stadt; es ist eine sogenannte »Problemschule«. Die angehende Lehrerin echauffiert sich über ihre Schüler. Sie könne das nicht verstehen, dass die jungen Leute keine Arbeit bekämen. In der Gastronomie, in den Hotels würden seit Jahren »händeringend« Auszubildende gesucht. »Die sind selber schuld, die wollen einfach nicht«, sagt sie. Ja, wirklich? Sowohl der viel zitierte Fachkräftemangel als auch das angebliche Überangebot an Lehrstellen sind schlicht Mythen: 2010 bekam jeder dritte Jugendliche, der eine Ausbildung beginnen wollte, keine Stelle. Das Angebot an Ausbildungsplätzen ist auf den drittniedrigsten Stand seit zehn Jahren gesunken, klagt die Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten. 2 Darüber hinaus ist mittlerweile jeder zweite Arbeitsplatz in der Gastronomie ein
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