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Wir müssen leider draußen bleiben

Wir müssen leider draußen bleiben

Titel: Wir müssen leider draußen bleiben
Autoren: K Hartmann
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noch die Opfer zu Tätern, indem er die Idee der sozialen Gerechtigkeit durch den Begriff der Leistungsgerechtigkeit ersetzte. Berechtigt, Forderungen an die Gesellschaft zu stellen, ist nur, wer »leistet«. Oder, mit Franz Münteferings Worten: »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« 33 Wie vielen Bürgern sprachen die sogenannten Sozialdemokraten da aus der Seele?
    Zwar ist der Faulheitsvorwurf längst wiederlegt: Eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung belegt, dass Hartz-IV-Empfänger sogar eine höhere Arbeitsmotivation haben als der Rest der Bevölkerung. Ein Drittel von ihnen ist erwerbstätig – nur reicht das Geld nicht einmal für das Existenzminimum. Vier von fünf Leistungsempfängern sind bereit, eine Arbeit unterhalb ihrer Qualifikation anzunehmen. 34 Das selbe Institut fand 2010 heraus, dass die Hälfte der Hartz-IV-Empfänger mindestens 20 Stunden pro Woche einer nützlichen Tätigkeit nachgeht. Allenfalls 350 000 zur Arbeitssuche verpflichtete Hartz-IV-Bezieher würden sich nicht um Arbeit bemühen. Dabei handele es sich aber zum größten Teil um ältere Hilfsbedürftige, die gesundheitlich stark eingeschränkt seien. 35 Auch der viel zitierte »Missbrauch« ist verschwindend gering: Die Quote liegt bei etwa einem Prozent. 72 Millionen Euro mussten Hartz-IV-Empfänger 2009 zurückzahlen plus 3,7 Millionen Euro Bußgeld dafür, dass sie sich zu spät arbeitslos gemeldet hatten oder einen Termin beim Amt verstreichen ließen. 36 Während Steuersünder den deutschen Staat straffrei um mindestens 3,4 Milliarden Euro betrogen haben. Mindestens 250 Milliarden Euro, das schätzen Experten, haben Deutsche noch immer auf Konten in Steueroasen wie Luxemburg. Liechtenstein und in der Schweiz gebunkert. 37
    Die Konstruktion der Nutzlosen
und die Kriminalisierung der Armen
    Warum hält sich die Legende des Sozialschmarotzers so hartnäckig? Warum wollen ihn so viele persönlich kennen, obwohl er praktisch nicht existiert? Wie kann es sein, dass Menschen unter dem Begriff »Sozialschmarotzer« subsumiert werden, völlig unabhängig davon, welches Schicksal hinter ihrer Bedürftigkeit steckt?
    Die Entwertung der Armen und ihre Kriminalisierung hat eine lange Geschichte, an deren Anfang das aufstrebende Bürgertum steht. Im Mittelalter galten die Armen als »Kinder Gottes«, zur Rettung ihres Seelenheils versorgten die Reichen sie mit Almosen. In der Neuzeit änderte sich die Betrachtung der Armut: Man unterschied nun zwischen »würdigen Armen«, also solchen, die unverschuldet in eine Notsituation geraten sind und der Hilfe bedürfen, und »unwürdigen Armen«, die sich auf unsittliche Weise, als Diebe oder Schwindler Hilfe erschleichen. Letztere wurden öffentlich ausgepeitscht oder des Landes verwiesen. Als mit dem Kapitalismus die Bedeutung des Lohnarbeiters wuchs, lösten Zucht- und Arbeitshäuser den Pranger ab, »Besserungsanstalten« dienten der »Umerziehung« und Disziplinierung der Armen. Christian Marzahn, Professor für Sozialpädagogik, beschreibt die Einführung der Arbeitshäuser als erste Ökonomisierung der Armut: Diese »Besserungsanstalten« sollten die Armenkassen entlasten und halfen dem aufsteigenden Bürgertum, die eigenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen zu stärken: näm lich die, den disziplinierten Lohnarbeiter zu formen. Gleichzeitig dienten sie der sozialen Kontrolle, indem sie Armut moralisierten und abweichendes Verhalten bestraften. 38
    Die Eliten verstanden es also von jeher, sich die Armen durch Diffamierung dienstbar zu machen. Klar, dass vor allem Besserverdienende die Propaganda der Leistungsgerechtigkeit vorantrieben. Denn nur mir dem Begriffspaar »Leistungsgerechtigkeit« und »Sozialschmarotzertum« ließ sich die weltweit stetig wachsende Kluft zwischen Arm und Reich rechtfertigen. Was Langzeitarbeitslose können, wie viel sie schon gearbeitet, was sie tatsächlich für die Gesell schaft geleistet haben – als Steuerzahler, bevor ihnen gekündigt wurde, oder als Pflegekraft, die bis zur körperlichen und seelischen Erschöpfung gearbeitet hat: All das ist irrelevant geworden vor dem Generalvorwurf des Schmarotzertums.
    Nur der hat es möglich gemacht, unterschiedlichste Menschen unter dem erniedrigenden Begriff »Unterschicht« zusammenzufassen. Denn tatsächlich haben deren Angehörige, zu denen Langzeitarbeitslose gleichermaßen wie Migranten, Behinderte, Rentner, Alleinerziehende, psychisch Kranke,
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