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Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo

Titel: Wir Kinder Vom Bahnhof Zoo
Autoren: Christiane F.
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Sprüche auf Lager. Meistens Lebensweisheiten aus dem vorigen Jahrhundert. Man konnte drüber lachen. Die meisten Schüler taten das auch. Aber ich fand, dass immer ein Kern Wahrheit drinsteckte. Ich war oft anderer Meinung als er. Aber mir gefiel an ihm, dass er noch zu wissen schien, wo oben und unten ist.
    Die meisten Schüler mochten den Klassenlehrer nicht besonders. Der war ihnen wahrscheinlich zu anstrengend, sie nervte seine dauernde Moral. Die meisten waren sowieso total uninteressiert. Ein paar sahen zu, dass sie ein gutes Abschlusszeugnis kriegten, um vielleicht doch noch als Hauptschüler eine Lehrstelle zu ergeiern. Die machten noch brav ihre Schularbeiten, genau das, was aufgegeben war. Mal ein Buch lesen oder sich für irgendetwas interessieren, was nicht aufgegeben war, das gab es bei denen auch nicht. Wenn unser Klassenlehrer oder auch einer von den jungen Lehrern mal eine Diskussion anzufangen versuchte, dann haben alle nur blöd geglotzt. Zukunftspläne hatten die in meiner Klasse so wenig wie ich. Was kann ein Hauptschüler auch für Pläne machen? Wenn er Glück hat, dann kriegt er irgendeine Lehrstelle. Da kann er dann nicht danach gehen, was ihm vielleicht Spaß macht, sondern muss sehen, was angeboten wird.
    Es war vielen auch echt egal, was sie später machten. Vielleicht eine Lehrstelle oder als Ungelernter Geld machen oder aber auf Stütze gehen. Da galt so die Meinung: Verhungern tut bei uns keiner, eine Chance hat ein Hauptschüler auch nicht, warum also groß anstrengen. Bei ein paar Typen war schon auszumachen, dass sie mal kriminell würden, ein paar soffen schon. Die Mädchen machten sich sowieso weiter keine Gedanken. Für die stand fest, dass irgendwann ein Typ für sie sorgen würde, und bis dahin konnten sie irgendwo verkaufen oder am Fließband jobben oder auch noch zu Hause rumhängen.
    So waren nicht alle, aber das war die Grundstimmung an der Hauptschule. Total nüchtern, keine Illusionen und erst recht keine Ideale. Das zog mich ganz schön runter. Ich hatte mir mein Leben ohne Drogen anders vorgestellt.
    Ich habe mir oft Gedanken darüber gemacht, warum die Jugendlichen so mies drauf waren. Sie konnten sich eben an nichts mehr freuen. Ein Moped mit sechzehn, ein Auto mit achtzehn, das war irgendwie selbstverständlich. Und wenn das nicht da war, dann war man minderwertig. Auch für mich war es ja in allen meinen Träumen selbstverständlich gewesen, dass ich erst mal eine Wohnung und ein Auto hatte. Sich abrackern für eine Wohnung, für ein neues Sofa wie meine Mutter, das war nicht drin. Das waren die abgespitzten Ideale unserer Eltern: Leben, damit man sich was anschaffen kann. Für mich, und ich glaube auch für viele andere, waren die paar materiellen Dinge erst mal die Mindestvoraussetzung zum Leben. Dann musste aber noch was kommen. Eben das, was das Leben auch sinnvoll macht. Und das war nirgends in Sicht. Ein paar, dazu zählte ich auch mich, waren aber noch immer auf der Suche nach dem, was so ein Leben auch sinnvoll macht.
    Als wir in der Schule über den Nationalsozialismus sprachen, hatte ich sehr zwiespältige Gefühle. Auf der einen Seite drehte es mir den Magen um, wenn ich daran dachte, zu welcher grauenhaften Brutalität Menschen fähig sind. Andererseits fand ich es gut, dass es früher noch was gab, woran die Menschen glaubten. Ich habe das dann im Unterricht auch mal gesagt: »Irgendwie wäre ich gern während der Nazizeit Jugendlicher gewesen. Da wussten die Jugendlichen doch noch, wo es längsgeht, da hatten sie Ideale. Ich glaube, für einen Jugendlichen ist es besser, falsche Ideale zu haben als gar keine.« Ich meinte das nicht voll ernst. Aber es ist schon was dran.
    Auch bei uns auf dem Land gingen die Jugendlichen schon auf alle möglichen Trips, weil sie das Leben, das ihnen die Älteren anboten, nicht befriedigte. Sogar der Brutalotrip kam schon bis in unser kleines Dorf. Schläge austeilen statt einstecken. Wie schon zwei Jahre früher in Berlin wurden ein paar Jungen und Mädchen echt von der Punkerbewegung angetörnt. Mich hat es immer erschreckt, wenn ich merkte, dass Leute, die sonst ganz in Ordnung waren, im Punk den geilen Trip sahen. Denn das ist eigentlich nur noch Brutalität. Schon die Musik ist einfach fantasielos und nur noch tierisch brutaler Rhythmus.
    Ich kannte einen Punker bei uns ganz gut. Man konnte mit ihm echt quatschen, solange er sich nicht die Sicherheitsnadel durch die Backe pikste und den Totschläger einsteckte. Bei
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