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Wir beide nahmen die Muschel

Wir beide nahmen die Muschel

Titel: Wir beide nahmen die Muschel
Autoren: Heinz Hendrix
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werden
die Waldflächen weniger. Im weiteren Verlauf wird es über den Somport-Pass bis
auf 1430 m hoch gehen. Viele ältere Pilger hatten wir heute schon überholt. Es
macht uns Spaß, den ersten Tag zu gehen! Gestern noch in Deutschland am
Computer gesessen, heute mit meinen Bergschuhen schon in große Höhen. Von der
Terrasse aus hatten wir eine sehr schöne Aussicht auf die Berge der Pyrenäen
mit ihren sehr weiten Tälern, welche kaum besiedelt waren. Wir tranken zwei
Glas Cola, beendeten unsere Pause und ließen wieder unsere Stöcke schwingen.
Helga wollte ihre zuhause zuerst nicht mitnehmen. Ich konnte sie dann doch noch
dazu überreden. Auf dieser steilen Strecke merkte sie sehr schnell wie wichtig
sie für sie waren. Zum einen entlasteten sie ihre Knie, zum anderen boten sie
einen sicheren Halt auf den manchmal sehr schlechten Geröllwegen. Auf 1095 m
Höhe steht auf einem Felsen die Muttergottesstatue der Vierge de Biakorri. Ein
Hochklettern zur Statue ist einfach ein Muss. Manche Pilger hatten hier am
ersten Tag schon ihre Schuhe abgestellt. Ich hätte gerne einmal deren Füße
gesehen. Wir hatten damit noch keine Probleme. Sei ruhig, sagte Helga wenn ich
davon redete, ich will nichts davon hören! Manche hatten Totenzettel ihrer
Lieben aufgestellt. Andere Zettel mit Bitten um Erhörung. Im Gespräch mit
manchen Pilgern aus aller Welt erfuhren wir, wie tief sie mit ihrem Glauben
verwurzelt waren. Einen besonderen guten Kontakt hatten wir zu zwei älteren
Pilgern aus Brasilien. Vielmehr hatte Helga diesen guten Kontakt. Sie hat eine
besonders liebenswürdige Gabe auf Menschen zuzugehen und, ohne ihre Sprache zu
sprechen, mit ihnen zu kommunizieren. Ich habe dies auf unserem gesamten
Pilgerweg noch sehr oft erleben können. Da bin ich leider viel zu steif
veranlagt. Wie oft sind wir in den nächsten zweieinhalb Monaten in schallendes
Gelächter ausgebrochen, wenn sie sich mit Händen und Füßen mit Menschen aus der
ganzen Welt unterhalten hat. Ich denke, dies ist eine Gabe Gottes! Wir waren
auf unserem Weg unserem Herrgott wieder ein Stück näher gekommen. Öfters sahen
wir jetzt auch Pferde auf den Berghängen stehen, sehr oft auch langhaarige
Manech-Schafe. An einigen toten Schafen waren wir vorbeigekommen. Die Hirten
lassen diese Kadaver liegen, als Futter für die Geier, welche den ganzen Morgen
schon über uns kreisten. Weiter führt unser Aufstieg an einer kleinen
steinernen Schutzhütte vorbei, entlang der französisch-spanischen Grenze in
einem kleinen Waldstück zum Rolandsbrunnen und damit über die offizielle Grenze
nach Spanien, zum nahen Col de Bentarde mit einer Wegeshöhe von 1344 m. Einige
Wegkreuze hatten wir schon passiert. Hier hatten Pilger auf ihrem Weg nach
Santiago den Tod gefunden. Viele Pilger hatten in all den Jahren dort einen
Stein abgelegt, manche eine Jakobusmuschel. Diese Kreuze sollen uns eine
Mahnung sein, kein unnötiges Risiko in den nächsten Monaten einzugehen und
unser Kräfte nicht zu überschätzen! Santiago war unser Ziel, aber auch der Weg
sollte unser Ziel sein, ich wollte jeden Meter genießen. Unser Weg ging weiter
stetig bergauf. Überglücklich sang ich lauthals wie in der Probe in unserem
Männerchor das Lied »Oh, wie schön ist deine Welt, Vater wenn sie golden
strahlet«. Auch ein paar Tränen sind dabei vor lauter Glück geflossen. Ich war
allein in Gottes schöner Natur. Meine Pilgerpartnerin ging schon weit vor mir.
Ich habe sie an diesem Tag oft bewundern müssen. Sie war mein Motor. Oft ging
sie 400—500 m vor mir. Mir schmerzten fast alle Knochen. Mein Rucksack wurde
mit jedem Kilometer schwerer. Benötigte ich wirklich all diese Sachen, welche
ich mitgenommen hatte? Zu unseren zeitlich abgesprochenen Pausen trafen wir
wieder zusammen. Wir waren in wenigen Stunden schon ein tolles Team geworden.
Nun ging es hoch zum historischen Ibañeta-Pass. Hier hatte im Jahre 778 die
Schlacht stattgefunden, auf der das im 12. Jh. entstandene Rolandslied basiert.
Nach seinem missglückten Feldzug gegen die Mauren in Zaragoza zog sich das Heer
Karls des Großen (742-814) aus Spanien zurück. Am Ibañeta-Pass wurde die vom
Ritter Roland angeführte Nachhut von einem baskischen Heer angegriffen, um die
Zerstörung Pamplonas durch die Franken zu rächen. Roland und etliche Ritter
starben dabei. In der späteren Heldensaga werden die baskischen Angreifer zu
Mauren, Roland zum tapferen Helden und Karl der Große zum Retter der
Christenheit stilisiert — eine Version,
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