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Winters Knochen

Winters Knochen

Titel: Winters Knochen
Autoren: D Woodrell
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eines bedrohlichen Felsgrats, ein schmaler Pfad führte dort hinauf. Das Haus war ursprünglich eher klein gewesen, doch nach und nach hatten die verschiedenen Bewohner, wenn sie denn das Werkzeug und die Holzreste dafür hatten, weitere Zimmer und Fenster und anderes angebaut. Immer schien es Wände zu geben, die mit schwarzer Teerpappe bedeckt waren und monatelang darauf warteten, dass andere Wände und ein Dach daherkamen und ein Zimmer vervollständigten. An allen möglichen Stellen ragten Ofenrohre heraus.
    Drei Hunde, Mischlinge aus allen möglichen Jagdhundrassen, lebten unter der großen umgebauten Terrasse. Ree kannte sie, seit sie Welpen waren, und rief nach ihnen, als sie sich dem Hof näherte. Sie kamen angerannt, um an ihr zu schnüffeln und sie schwanzwedelnd zu begrüßen. Sie bellten, sprangen an ihr hoch und schleckten sie ab, bis Victoria die Haustür öffnete.
    »Ist jemand gestorben?« fragte sie.
    »Nicht, dass ich wüsste.«
    »Bist du bei diesem scheußlichen Wetter nur hergekommen, um uns zu besuchen, Liebes? Du musst ja ziemlich einsam sein.«
    »Ich suche nach Dad. Ich muss ihn finden, und zwar schnell.«
    Dass gewisse Frauen, die nicht verzweifelt oder verrückt waren, sich von Onkel Teardrop angezogen fühlten,verwirrte Ree und machte ihr Angst. Ihn anzuschauen war ein Albtraum, dennoch hatte er eine Handvoll attraktiver Frauen hinter sich. Victoria war Nummer drei gewesen und jetzt Nummer fünf. Sie war eine groß gewachsene Frau mit starken Knochen, üppigen Proportionen und langem rotbraunem Haar, das sie normalerweise zu einem schweren, wackligen Knoten zusammensteckte. In ihrem Schrank fand sich keine einzige Jeans, keine Hose, nur alte und neue Kleider, und fast alle von Rees Sachen waren erst von Victoria getragen worden. Im Winter las sie Gartenbücher und Samenkataloge, und bei der Aussaat im Frühling verschmähte sie die üblichen Big-Boyoder Early-Girl-Tomatensorten zugunsten exotischer internationaler, die sie per Post bekam. Sie hegte und pflegte sie, und die Früchte schmeckten stets nach weit entfernten, bezaubernden Ländern.
    »Na, dann komm rein, Kleines. Schüttle die Kälte ab. Jessup ist nicht hier, aber der Kaffee ist heiß.« Victoria hielt Ree die Tür auf. Aus der Nähe roch Victoria wunderbar, immer schon, ein Duft, der einem ins Blut ging und fast schwindlig machte. Sie sah gut aus und roch gut, und Ree mochte sie lieber als alle anderen Dolly-Frauen, außer Mom. »Teardrop schläft vielleicht noch, also gehen wir’s ruhig an, bis es so weit ist.«
    Sie setzten sich an den Esstisch. In die Decke war eine Luke eingebaut worden, manchmal tropfte an den Ecken Regenwasser herein, aber es hellte den Raum deutlich auf. Ree konnte das Innere des Hauses von der Eingangstür bis zur Hintertür überblicken und bemerkte, dass nebenbeiden Türen jeweils ein langes Gewehr bereitstand. In einer Schale, die mit Nüssen gefüllt war und mitten auf dem Tisch stand, lagen eine silberne Pistole und ein Magazin. Neben der Pistole stand ein großer Beutel mit Gras und ein noch größerer Beutel mit Crystal Meth.
    »Ree, ich hab’s vergessen«, sagte Victoria, »trinkst du schwarz oder mit Sahne?«
    »Mit Sahne, wenn welche da ist.«
    »Na, wenn das nicht die Wahrheit ist.«
    Sie saßen über den Tisch gebeugt und tranken Kaffee. Eine Kuckucksuhr rief neun Mal. Auf dem Fußboden standen Schallplatten aufgereiht, fast die ganze Wand entlang. Auf dem Bücherregal stand eine teuer aussehende Stereoanlage, daneben ein CD-Regal, etwa eins zwanzig hoch. Die Möbel waren meist aus Holz, im Country-Stil. Ein Möbelstück war ein großer runder Polsterstuhl mit einem Holzgestell. Wenn man sich genau in die Mitte setzte, sah es aus, als würde man in einer Blume hocken. Arabische Tücher, lavendelfarben, mit zerfließenden Mustern, waren zur Dekoration an die Wände genagelt.
    »Das Gesetz war da. Dieser Baskin. Er hat gesagt, wenn Dad nächste Woche nicht vor Gericht erscheint, dann müssen wir aus dem Haus. Dad hat es für seine Kaution überschrieben. Sie nehmen uns alles weg. Und den Wald auch. Victoria, ich muss Dad finden und ihn dazu bringen, dort zu erscheinen. Ich muss.«
    Onkel Teardrop stand in der Tür, rekelte sich und sagte: »Das solltest du nicht tun.« Er trug ein weißes T-Shirtund pflaumenfarbene Sweatpants, die er in offene Schnürstiefel gestopft hatte. Er war knapp eins fünfundachtzig groß, hatte aber abgenommen und bestand nur noch aus Muskeln und Knochen, sein
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