Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winters Knochen

Winters Knochen

Titel: Winters Knochen
Autoren: D Woodrell
Vom Netzwerk:
eine Katze, ein atmendes Etwas, das am Feuer saß und ab und an Geräusche von sich gab. Moms Sessel war ein alter gepolsterter Schaukelstuhl, der nur selten schaukelte, manchmal summte sie einige unzusammenhängende Töne, die keine Melodie ergaben und in der Höhe nicht zusammenpassten. Den Großteil des Tages aber war sie stumm und trug ein leises Lächeln, ausgelöst durch irgendwas Nettes, das ihr durch den Kopf ging. Sie war eine Bromont, in diesem Haus geboren, und früher einmal sehr hübsch gewesen. Selbst jetzt, bei all den Medikamenten, verloren für die Gegenwart, mit Haaren, die sie nicht mehr waschen oder kämmen konnte, mit tiefen Falten im Gesicht, sah man, dass sie einmal schöner gewesen war als alle anderen Mädchen, die jemals barfuß über dieses verworrene Land in den Ozarks, mit seinen Hügeln und Tälern, getanzt waren. Groß, dunkel und hübsch war sie gewesen in jenen Tagen, bevor ihr Verstand in Stücke brach und sie sich nicht dagegen wehrte.
    »Esst auf«, meinte Ree. »Der Bus kommt gleich.«
    Das Haus mit seinen hohen Zimmerdecken war 1914 erbaut worden. Eine einsame Glühbirne warf mürrischeSchatten hinter alles, verzogene dunkle Formen lagen auf dem Fußboden, hingen an Wänden und drückten sich in die Ecken. An den helleren Stellen war das Haus kühl, in den Schatten kalt. Die Fenster saßen hoch oben in der Wand, an den Außenseiten der Scheiben flatterten zerrissene Plastikplanen aus dem vorherigen Winter. Die Möbel waren ins Haus gekommen, als die Großeltern Bromont noch lebten, waren in Gebrauch, seit Mom ein Kind war. Das klumpige Füllmaterial und der abgewetzte Möbelstoff rochen noch immer nach Pfeifentabak und zehntausend staubigen Tagen.
    Ree stand am Spülbecken und machte den Abwasch, sah zum Fenster hinaus auf den steilen Hang voller kahler Bäume, mit den drohend aufragenden Felsen und dem schmalen Trampelpfad. Sturmböen warfen die Äste umher, pfiffen am Fensterrahmen vorbei und heulten im Ofenrohr. Die Wolkendecke legte sich tief und drohend übers Tal, sie war kurz davor zu bersten und den Schnee loszulassen.
    »Die Socken stinken«, sagte Sonny.
    »Würdest du sie einfach anziehen, bitte? Du verpasst den Bus.«
    »Meine Socken stinken auch«, meinte Harold.
    »Würdet ihr bitte, bitte einfach die verdammten Socken anziehen? Bitte?«
    Sonny und Harold waren achtzehn Monate auseinander. Fast immer gingen sie Schulter an Schulter, rannten nebeneinander her, schlugen im selben Augenblick eine andere Richtung ein, ohne ein Wort zu sagen. Sie bewegtensich wie ein rätselhaftes, instinktgesteuertes Zweiergespann, zwei herumflitzende Anführungszeichen. Sonny, der Ältere, war zehn, der Sprössling einer Bestie, stark, feindselig und direkt. Seine Haare hatten die Farbe von braunem Eichenlaub, seine Fäuste waren harte, junge Knoten, und in der Schule prügelte er sich ständig mit den anderen. Harold folgte ihm, versuchte, es ihm gleichzutun, doch es fehlte ihm an Kampfgeist und Kraft, häufig kam er zerkratzt und gedemütigt nach Hause und musste wieder aufgerichtet werden.
    »So schlimm riechen sie eigentlich nicht, Ree«, sagte Harold.
    »Doch, tun sie. Aber das macht nichts. Sie stecken ja in unseren Stiefeln«, meinte Sonny.
    Ree hoffte inständig, dass die Jungs mit zwölf noch nicht allen Wundern gegenüber abgestumpft sein würden, dem Leben nicht gelangweilt entgegenstanden und innerlich vor Zorn kochten. Viele der Dolly-Kinder waren so, zerstört, bevor sie Haare am Kinn hatten, dazu erzogen, außerhalb klarer Gesetze zu leben und nur den unbarmherzigen, blutgetränkten Befehlen zu gehorchen, die dieses Leben beherrschten. Es gab zweihundert Dollys, die im Umkreis von dreißig Meilen um dieses Tal herum lebten, dazu die Lockrums, Boshells, Tankerslys und Langans, praktisch alles angeheiratete Dollys. Manche von ihnen führten ein anständiges Leben, viele nicht, doch selbst die anständigen Dollys waren im Grunde ihres Herzens Dollys und im Ernstfall zur Stelle. Untereinander waren sie aufbrausend und grobschlächtig, dochihren Feinden bereiteten sie die Hölle auf Erden, voller Verachtung für die Lebensweisen der Stadt klammerten sie sich an ihre eigenen Gesetze. Wenn Ree Sonny und Harold Haferbrei vorsetzte, weinten die beiden manchmal. Sie löffelten ihren Brei, aber weinten um Fleisch, sie aßen alles, was es gab, und weinten um alles, was es hätte geben können, verwandelten sich in kleine Wirbelstürme aus Wünschen und Bedürfnissen, und Ree hatte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher